Stefam Heym spricht 1989 am Berliner Alexanderplatz. © imago images / Jürgen Ritter Foto: Jürgen Ritter

Die ostdeutsche Literatur nach der Zeitenwende

Stand: 02.10.2020 11:03 Uhr

Vor dreißig Jahren wurden Ost- und Westdeutschland wiedervereinigt - ein radikaler Bruch für Millionen Menschen, auch für die vielen Schriftstellerinnen und Schriftsteller.

von Alexander Solloch

In den Jahren und Jahrzehnten zuvor hatten sie sich zwischen Anpassung und Widerstand an der SED-Herrschaft abarbeiten müssen. Wenn sich auf einmal alles ändert im gesellschaftlichen Leben, wenn der Staat plötzlich ein anderer ist, die Verfassung eine ganz andere ist, das Wirtschaften vollkommen anders läuft als bislang - dann muss das doch auch Auswirkungen auf die Künste haben!

"Es ist," sprach Stefan Heym im November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, "als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren von Dumpfheit und Mief!"

Die Stimmen aus dem Osten

Die Fenster offen, und hinweggeweht all die Zensoren mit ihren bleischweren Scheren und den huldvoll erteilten Druckgenehmigungen. Zugleich aber ließ die neue Freiheit den Einfluss der ostdeutschen Schriftstellerinnen und Schriftsteller radikal schwinden. Die Politik interessierte sich ja nicht mehr für sie, und das potenzielle neue Publikum im Westen erweckte auch erst einmal nicht den Eindruck, als habe es sehnsüchtig auf die neuen Stimmen aus dem Osten gewartet. Julia Franck, gebürtige Ost-Berlinerin, hatte diese Distanz schon als Kind zu spüren bekommen. 1979 siedelte die Mutter mit ihr und ihren Schwestern in die Bundesrepublik über.

Ihr bedrückend-lakonischer Roman "Lagerfeuer", 2003 erschienen, erzählt davon. Man hätte glücklich sein sollen und war doch unglücklich: "Die Ostler waren Menschen, die aus ganz großer Ferne kamen. Man hätte wahrscheinlich genauso gut sagen können, man kommt aus der Mongolei, und jeder Italiener, jeder Amerikaner, jeder Japaner wäre dem rheinländischen oder saarländischen Kind vertrauter und näher gewesen. Dann stellte man sich lieber mit dem Rücken in diesen eisigen Wind, der da vom Osten her wehte."

Christoph Hein - der Dorn im Auge

Auch ein Autor wie Hans Joachim Schädlich, heute eine unverrückbare Größe der deutschen Literatur, hatte nach seiner Übersiedlung viele schmerzhafte Jahre gebraucht, um sich in der Bundesrepublik jedenfalls so weit zurechtzufinden, dass er überhaupt wieder schreiben konnte.

Anderen, wie Christoph Hein, der in der DDR geblieben war, um den Machthabern Dorn im Auge zu bleiben, fiel es nicht so schwer, in der neuen Zeit anzukommen, wenngleich sich seine Rolle - die Rolle des Schriftstellers überhaupt - so stark verändert hatte: "Einen nennenswerten Journalismus gab es in der DDR nicht, so dass die Leute dann eher die Wahrheit aus den Büchern erfahren konnten. Dadurch hatten jedenfalls die Autoren, die von der Bevölkerung akzeptiert und angesehen waren, einen enormen Einfluss. Der war natürlich schlagartig vorbei, jetzt konnten die Medien und die Presse diese Rolle übernehmen, was aber für mich nicht unangenehm war, ich konnte mich auf meine Arbeit konzentrieren, insofern war das für mich ganz hilfreich."

Wo bleibt der große Wende-Roman?

Alexander Solloch und Ingo Schulze im Gespräch © Helge Krückeberg
Ingo Schulze: "Jetzt machen wir 'ne Zeitung, diese Demokratisierung, da muss jeder an seinem Platz was tun!"

Hein sollte später noch mit Romanen wie "Landnahme" oder "Glückskind mit Vater" große Sittengemälde vom Leben in der DDR malen. Zunächst aber verweigerte er sich der Forderung, die die Feuilletons sehr schnell nach der Einheit erhoben: Schreibt endlich den großen Wende-Roman! Ein Mantra, das kaum je endete. Da konnte der "Wende-Roman" so oft erscheinen, wie er wollte, etwa mit "Nikolaikirche" von Erich Loest, mit Monika Marons "Animal triste" oder auch, warum nicht, aus westlicher Perspektive mit "Herr Lehmann" von Sven Regener.

Natürlich auch mit "Neue Leben" von Ingo Schulze, der so perspektivenreich von den Wende-Wirren in den Herzen und Köpfen zu erzählen wusste: "Also, wir hatten im Herbst '89 erst so Flugblätter gemacht, plötzlich konnte man was drucken lassen, wir mussten nur so’n Stempel bekommen, dass das nicht neonazimäßig ist. Da haben wir gesagt: Jetzt machen wir 'ne Zeitung, diese Demokratisierung, da muss jeder an seinem Platz was tun! Und so waren wir aus Versehen Unternehmer geworden. Da gab's dann natürlich einen Schnellkurs; ich wusste ja nicht einmal, was 'Cash' bedeutet, von 'Mehrwertsteuer' hatte ich noch nie was gehört. Der Hintergrund davon steht in 'Neue Leben'.'"

Uwe Tellkamp und der Wendewälzer

Dann kam der Wende-Wälzer von Uwe Tellkamp: "Ich hab' mal gesagt, ich schreibe für Mars-Bewohner, der ich ja allmählich auch werde, für Wesen, die nichts wissen aus diesem versunkenen Land, und es ist meine Aufgabe als Autor, das bis ins kleinste Detail wieder auferstehen zu lassen, es zu machen."

Als 2008 sein gewaltiger Roman "Der Turm" erschien, eine Geschichte vom Dresdner Bürgertum in den letzten Jahren der DDR, verstummte endlich das "Wende-Roman"-Gebrumm. Ein riesiger Erfolg - aber ob überhaupt jemand den Tausendseiter zu Ende gelesen hat und wie viele Leser von Tellkamps Pomp und Pathos Verstopfungserscheinungen davontrugen, bleibt offen.

Junge Stimmen aus Ostdeutschland

Unterdessen gießen die jungen Ostdeutschen viel Witz, Kraft und Frische in die gesamtdeutsche Literatur - Olivia Wenzel etwa oder Lukas Rietzschel, die die Revolutionszeit kaum oder gar nicht erlebt haben, oder die jetzt 40-jährige Judith Schalansky. Prägend ist für sie die Kindheitserinnerung an den Winter '89/90: "Das Schulbuch gab jetzt Lenins Kindheit vor, das war das, was als nächstes dran war, draußen liefen Menschen über die Grenze, manche hauten ab. Es war eine ganz besondere Aufbruchstimmung, aber auch eine große Angst, was jetzt eigentlich passiert. Noch im Februar fingen wir auf einmal mit Frühlingsgedichten an, weil das einfach das nächste war, was im Buch nicht ideologisch gefärbt war."

Christoph Hein: "Es wird mehr als 100 Jahre dauern."

Davon erzählt Judith Schalansky im Roman "Der Hals der Giraffe": vom Gefühl der Halt- und Orientierungslosigkeit in den Jahren nach dem Ende der DDR.

So lange, wie die Deutschen getrennt waren, würden sie auch brauchen, um sich wiederzuvereinigen, meinte damals Christoph Hein: 40 Jahre. Inzwischen aber erhebt Hein einen Aufschlag: "Es wird mehr als 100 Jahre dauern."

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