Stand: 14.09.2020 08:00 Uhr

"Manchmal gab's auch Sekt im Bus"

Eine Frau  lacht in die Kamera.
Von der Gastronomie zu Otto: Annegerd Stolpmann hat nach der Wende beim Versandhandel angefangen.

Annegerd Stolpmann arbeitet in der Gaststätte am Boizenburger Bahnhof, als die Mauer fällt - und bekommt das erst gar nicht mit: "Am Sonnabend hatten wir eigentlich Betriebsfest und am Freitagmorgen standen Leute vor der Tür und haben erzählt, dass sie auf der Reeperbahn waren. Denen haben wir erstmal einen Vogel gezeigt!" Doch die Mauer ist tatsächlich gefallen und zum Betriebsfest geht keiner mehr - denn alle sind im Westen.

Otto bietet Arbeitsplätze

Eine Frau  lacht in die Kamera.
Annegerd Stolpmann nimmt für die neue Arbeit täglich mehr als zwei Stunden Fahrt in Kauf.

Acht Stunden herumstehen, obwohl niemand mehr kommt - unter diesen Umständen will Annegerd Stolpmann nicht in der Gastwirtschaft weitermachen. Sie erfährt, dass der Hamburger Otto Versand im örtlichen Rathaus neue Mitarbeiterinnen anwirbt. Jede Interessierte bekommt dort die gleiche Antwort: "Tragen Sie sich ein und kommen Sie morgen mit dem Bus nach Hamburg!"

Das neue Absatzgebiet der alten DDR verschafft dem Otto Versand einen Nachfrage-Boom und eine rasante Umsatzsteigerung. Er braucht auch deshalb die Arbeitskräfte aus dem Osten. Seit November 1990 fahren täglich mehrere Werksbusse vom Bahnhof Boizenburg ab und bringen Frauen aus der Grenzregion zum Otto Versand.

Boizenburg als Stadt der Pendler

Drei Frauen stehen an einen Transportband. © Otto
Rund 700 Frauen finden bei Otto Arbeit und pendeln täglich von Boizenburg nach Hamburg.

Das kann die Stadt gut gebrauchen: 1990 sind offiziell 30 Prozent der Menschen arbeitslos. Das Fliesenwerk als größter Betrieb im Ort entlässt bald allein 1.000 Mitarbeiter. In den Folgejahren geht der Abbau von Arbeitsplätzen weiter. 1997 läuft in der insovlenten Elbewerft Boizenburg das letzte Schiff vom Stapel. Besonders die Frauen sind schlecht dran: Sie hatten zuvor in der Landwirtschaft gearbeitet, in der Wäscherei oder als Krankenschwestern und werden als erste arbeitslos. Rund 700 Frauen aus dem Osten finden beim Otto-Versand eine neue Arbeit, pendeln fortan und nehmen täglich mehr als zwei Stunden Fahrt in Kauf. 1992 liegt die Arbeitslosigkeit in Boizenburg dann bei 12 Prozent. Die zahlreichen Pendler sind gut für die Statistik, für den Seelenfrieden einer Region allerdings nicht. Die Stadt möchte die Fachkräfte zurückgewinnen, versucht mehr Gewerbe anzusiedeln. Doch durch die Grenznähe konkurriert Boizenburg noch stärker mit der westdeutschen Wirtschaft als andere Städte.

Otto bietet mehr Geld und mehr Unabhängigkeit

Frauen aus sozialistischen Verhältnissen am kapitalistischen Fließband - Otto will sichergehen, dass das Arbeitspensum erfüllt wird und arbeitet die Frauen gezielt ein. Annegerd Stolpmann wird Einkäuferin. Aus langen Gängen und Regalwänden muss sie die Waren nach Liste zusammensuchen, bevor diese verschickt werden.

Sie wird damals von der Fernseh-Reporterin gefragt, ob sie nun mehr arbeiten müsse als im Osten. Doch in der Gastronomie wusste sie nie wann der Tag endet, das sei um einiges schwerer gewesen- sagt sie bis heute. Bei Otto gibt es feste Pausenzeiten, sogar einen Arzt pro Schicht, der auf Abruf Verspannungen behandelt. Der erste Höhepunkt kommt schon nach zwei Wochen in Form des Gehaltsschecks: In der Gastronomie bekommt sie im Monat 420 Mark, nach einem halben Monat bei Otto sind es knapp 800 Mark: "Da kamen mir wirklich die Tränen, ich konnte gar nichts mehr sagen. Es war eine völlig andere Welt." 1.800 Mark brutto im Monat - für Annegerd Stolpmann kommt damit ein kleines Vermögen auf ihr erstes eigenes Konto. In Hamburg sind für diesen Tariflohn allerdings nur wenige zu begeistern.

Der Otto-Bus fährt bis heute

Eine Bushaltestelle in Boizenburg. © NDR
Der Otto-Bus fährt auch heute noch von dieser Bushaltestelle ab.

Für die Spätschicht fahren die Frauen täglich um 15 Uhr aus Boizenburg ab und kommen gegen Mitternacht zurück. Einige arbeiten vorher noch in ihren alten Betrieben in Kurzarbeit und fahren dann zur Spätschicht nach Hamburg. "In der ersten Zeit war es immer sehr ruhig im Bus, viele haben die Zeit zum Schlafen genutzt, aber es gab auch viele lustige Momente", erinnert sich Annegerd Stolpmann. "Manchmal haben wir auch eine Flasche Sekt im Bus deponiert und zum Schichtende angestoßen." Trotzdem: Kollegialität und Vertrauen sind für Annegerd Stolpmann über die Jahre verloren gegangen. In der DDR habe die Gemeinschaft eine größere Rolle gespielt, ihr Freundeskreis ist mit der Zeit enger geworden. Nach drei Jahren Pendeln mit dem Bus sind für sie Job und Familie immer schwerer zu vereinbaren. Sie wechselt in die Tagschicht, kauft sich ein Auto und arbeitet noch bis 2001 für den Otto-Versand. Der Bus aus Boizenburg dorthin fährt noch heute.

 

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Eine Familie überquert im November 1989 mit Einkaufstüten einen geöffneten Grenzübergang zwischen DDR und BRD. © picture-alliance / dpa Foto: Wolfgang Weihs

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Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin | 14.09.2020 | 19:30 Uhr

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