"Es sind Freundschaften entstanden"
Traditionelle Schützenvereine sind in der DDR unerwünscht. Nach 1990 bauen die Boizenburger Schützen ihre Zunft wieder auf - mit Hilfe ihrer neuen Nachbarn in Lauenburg.
Ende 1990 ist ein Kamerateam des Deutschen Fernsehfunks unterwegs in den Kleinstädten Boizenburg und Lauenburg. Wie funktioniert die neue Nachbarschaft im vereinten Land? Der Lauenburger Bürgermeister aus dem Westen gibt sich selbstkritisch. So ein Hochhaus wie in Lauenburg: ein architektonischer Schandfleck. Aus diesen Fehlern des Westens könne der nur Osten lernen! Lernen müssten die Boizenburger im Osten aber erst einmal vom Westen, erzählt Wolf-Eckhard Schröder von der Boizenburger Schützenzunft von 1658. "Das ging schon damit los: Wie organisiert man einen Verein? Wir hatten das große Glück, dass die Lauenburger Gilde uns unter die Arme gegriffen hat." Es geht um nichts weniger als die Wiederbelebung einer alten Tradition, "ein großes Abenteuer", meint Schröder.
Wiederbelebung der Schützenzunft
In der DDR waren die traditionellen Schützenvereine in den Dörfern und Gemeinden unerwünscht - im Gegensatz zum Westen. 1945 hatten zwar auch die West-Alliierten die Vereine als "uniformierte Waffenträger" verboten, mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 jedoch wurden sie wieder zugelassen. Auch wenn alte Traditionen wie das Königsscheibenschießen und dörfliche Schützenfeste in der DDR veranstaltet wurden - der Schießsport blieb von den staatlichen Sportorganisationen dominiert. In Boizenburg heißt das 1990: Die traditionsreiche Zunft aus dem 17. Jahrhundert muss neu gegründet werden. Die Idee dazu hat ein Boizenburger Friseurmeister, der als Jugendlicher noch bei den Jungschützen war und Jahrzehnte später neu anfangen will. Hilfe kommt von den Schützenbrüdern aus Lauenburg. Sie lassen die Boizenburger auf ihrem Schießstand schießen, stellen Waffen zur Verfügung und sagen: "Kommt, wir feiern ein Schützenfest! Guckt, wie das abläuft.
Neuanfang mit alter Boizenburger Schützenfahne
Am Anfang haben die Boizenburger nichts. Nicht mal Uniformen. Mit Schärpen treten sie an. Aber, die Lauenburger Schützenbrüder der Gilde aus dem Jahre 1666 hüten einen Schatz: eine Fahne der Boizenburger Schützenzunft. Sie wurde einst über die Grenze geschmuggelt, sozusagen in Sicherheit gebracht: "Um den Bauch gewickelt, Jacke drüber gezogen und dann ist sie mit über die Grenze gekommen nach Lauenburg", erzählt Wolf-Eckhard Schröder. 1991 bekommen die Boizenburger sie dann feierlich von den Lauenburgern zurück - auf dem ersten Boizenburger Schützenfest nach der Wiedervereinigung.
Vorsichtige Annäherung
Herbert Bockelmann war damals schon bei der Lauenburger Schützengilde Kommandeur und ist jetzt Ehren-Major. Er erinnert sich daran, wie die erste Lauenburger Kompanie eine Patenschaft für die Ost-Zunft übernommen hat. Wobei er ein gewisses Misstrauen nicht leugnen kann. "Als dann ein ehemaliger Grenzpolizist dort die Führung in Boizenburg übernahm, das war schon irgendwie nicht so ganz in Ordnung. Aber Gott sei Dank hat sich das alles normalisiert." Und auch Wolf-Eckhard Schröder erinnert sich: Das erste Treffen der Schützen aus Ost und West sei keineswegs völlig spannungsfrei gewesen. "Das war relativ förmlich, muss ich sagen, wir waren angespannt." Die Lauenburger erleben es damals als das schwierigste, bloß nicht den Anschein zu erwecken, etwas überzustülpen. Die Boizenburger sollen sich nicht bevormundet fühlen. Auf der anderen Seite müssen die ostdeutschen Schützenbrüder neue Formalien einhalten. Eine Vereinsstruktur wird aufgebaut - mit Vorstand und Schatzmeister. Ein westdeutscher Schützenbruder, von Beruf Rechtsanwalt, berät.
Freundschaften und Spätfolgen
"Es sind Freundschaften entstanden. Man weiß, mit wem man es zu tun hat. Aber es ist auch nichts überdimensionales", so Herbert Bockelmann. Und Wolf-Eckhard Schröder ergänzt: "Wir haben unsere Freundschaft ja nicht überspitzt und übertrieben gelebt, und das halte ich für ganz, ganz wichtig." Was gemeinsam plagt sind Nachwuchssorgen - in Ost wie West. Wobei die Lauenburger Schützengilde ganz klar einen Vorteil hat: Geld. Die Boizenburger haben nur die Mitgliedsbeiträge. "Wir müssen schon rechnen", sagt Schröder, ob es reiche für die Blaskapelle fürs Schützenfest. Und auch einen tollen Schießstand haben die Lauenburger im Westen. Der der Boizenburger ist und bleibt verloren. In der DDR ging er an die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) und gehört heute noch zum Schießsportverein. Aber immerhin: Der Schützenkönig der Boizenburger Schützenzunft von 1658 wird wieder in Boizenburg ausgeschossen - Dank der Starthilfe der Schützenbrüder aus dem Westen.