Zeugnisse einer Diktatur: Das Erbe der Stasi-Akten
Millionen Stasi-Akten sind offiziell ins Bundesarchiv überführt worden. Dass sie überhaupt zugänglich sind, ist DDR-Bürgerrechtlern zu verdanken. Sie besetzten während der Wende 1989 Lager und sicherten die Überreste.
Mit der Überführung der Stasi-Unterlagen endete am 17. Juni auch das Amt von Roland Jahn, dem letzten Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). Die Behörde, die rund 30 Jahre über die Hinterlassenschaften des DDR-Geheimdienstes gewacht hat, ist damit Geschichte. Das Personal wird ins Bundesarchiv integriert, aus dem Amt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen soll das Amt der oder des Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur beim Deutschen Bundestag werden. Und es beginnt ein neues Kapitel für ein wichtiges Erbe der Friedlichen Revolution in der DDR: die Akten. Das vorige aufgeschlagen hatten im Wende-Herbst 1989 DDR-Bürgerrechtler und wütende Bürger, die einen ihnen bis dato zum größten Teil unbekannten Teil ihrer Geschichte retten wollten.
Rettung der Akten "Ausdruck großer Selbstermächtigung"
In Sprechchören skandieren Demonstranten damals auf den Straßen: "Stasi in die Produktion!". Für den Historiker Volker Höffer, der bis zum vom Bundestag beschlossenen Übergang der Akten in das Bundesarchiv, die Außenstelle Rostock des BStU in Waldeck geleitet hat, war die Wut der DDR-Bürger auf das Ministerium für Staatsicherheit (MfS) "Ausdruck einer großen Selbstermächtigung".
Bereits Anfang Dezember 1989, lange bevor die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße im Januar 1990 besetzt werden wird, sichern aufgebrachte Menschen in Parchim, Hagenow, Malchin, Rostock und andernorts im Norden die Akten des DDR-Geheimdienstes. Es ist ein Wettrennen gegen die Vernichtung von wertvollen Unterlagen, von Beweisen für jahrzehntelangen Machtmissbrauch.
Vielerorts werden Stasi-Akten vor dem Reißwolf gerettet
Im Heizhaus zwischen Rampe und Retgendorf am Schweriner Außensee verbrennen Stasi-Leute damals Akten und verscharren die Überreste. Ein Bürgerkomitee hat einen Tipp bekommen, hält Wache und gräbt mit einem Bagger riesige Mengen zerkleinerter Aktenklumpen aus. Doch nicht nur hier ist die Vernichtung der Unterlagen bereits in vollem Gange.
Verhandlungen mit der Stasi über den Bestand
In Wolgast statten Bürgerrechtler der MfS-Kreisdienststelle am 5. Dezember 1989 in einer Villa zusammen mit einem Staatsanwalt einen Besuch ab: Die Waffenkammer ist bereits leer, Tonbandspulen liegen vor geöffneten Panzerschränken auf dem Boden, zerrissene Fotos werden im Papierkorb gefunden. In Güstrow übernehmen Bürgerrechtler ebenfalls am 5. Dezember das Kommando. Der Ofen im Keller in der Straße der Befreiung qualmt noch, daneben Berge von Asche. Geschreddertes Papier wird sichergestellt. Der Theologe Heiko Lietz und andere verhandeln und wachen darüber, dass nicht noch mehr vernichtet wird.
Gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Diktatur
"Der eigentliche Kernaspekt liegt aber glaube ich, woanders", sagt Historiker Höffer: "In der ganz klaren Erkenntnis, dass diese Staatssicherheit die innere Hauptstütze der Diktatur war." Die Sicherung der Akten, "dieses einmaligen Erbes", die Aufklärung mithilfe der Akten ist für ihn vor allem eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Diktatur. Es habe insbesondere seitens der westdeutschen politischen und auch gesellschaftlichen Elite die Sorge gegeben, dass in den Akten "Sachen schlummern, die man besser nicht wissen möchte." Im Spätsommer 1990 sei es DDR-Bürgerrechtlern und der letzten DDR-Volkskammer mit einem "großen Kraftakt" und in einer "Art Showdown" gelungen, die Öffnung der Stasi-Akten für Betroffene, Wissenschaftler und Journalisten durchzusetzen.
Öffnung der Stasi-Akten: Weltweit einmaliges Experiment
Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Einheit, wird der Rostocker Pfarrer und spätere Bundespräsident Joachim Gauck zum "Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes" ernannt. "Weltweit einmalig", sagt Anne Drescher, die Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, "dass die Akten eines Geheimdienstes geöffnet werden." Entsprechend aufmerksam wird das deutsche Experiment aus dem Ausland beäugt. Und bewundert.
"Gaucken" in den 1990er-Jahren
Kernaufgaben der Sonderbehörde in den Anfangsjahren: den Zugang zu den Akten zu regeln und die Überprüfung des öffentlichen Dienstes auf eine frühere Tätigkeit für das MfS auf Basis der Aktenlage zu ermöglichen. "Gaucken" wird schnell zu einem stehenden Begriff. Erst Ende 1991 wird das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) verbschiedet. Kurz darauf können endlich die ersten Akten zur Einsicht vorgelegt werden. In Mecklenburg-Vorpommern dürfen im Januar 1992 als erste Heiko Lietz und der 2018 verstorbene Schriftsteller und Journalist Ulrich Schacht "ihre Akten" lesen. Neben Überprüfungen und Schicksalsklärungen geht es bei der Akteneinsicht auch um Rehabilitationsverfahren.
So schmerzhaft in Einzelfällen Einsicht oder Enthüllungen auch sind: "Ich habe in all den Jahren niemanden erlebt, der gesagt hat: 'Es war ein Fehler'", sagt Anne Drescher. Noch nach 30 Jahren stellen in Mecklenburg-Vorpommern zwischen 800 und 1.200 Menschen einen Erstantrag, die Wartezeiten sind lang. Insgesamt sind in 30 Jahren 7,3 Millionen Anträge eingegangen.
Überführung der Akten stellt "ein Stück Normalität her"
Nun liegt die Zukunft der Stasi-Akten im Bundesarchiv. "Ich halte das für eine absolut richtige Entscheidung. Aus meiner Sicht war die lange überfällig", sagt Jörn Mothes, der frühere Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern und Beiratsvorsitzender der Behörde des Bundesbeauftragten. Über viele Jahre wurde politisch um diese Entscheidung gerungen, Gutachten wurden vorgelegt und diskutiert. Das Ende der Sonderbehörde hat Symbolkraft. Aus Mothes' Sicht stellt die Überführung der Akten "ein Stück Normalität her". Im Bundesarchiv seien die Unterlagen gut aufgehoben, auf Dauer würde man entscheiden müssen, "welche von diesen Unterlagen wirklich historisch relevant sind. Und das ist Arbeit, die auf Dauer Archivare zu machen haben."
"Stasi-Akten werden in das nationale Gedächtnis überführt"
Eine drängende Aufgabe des Bundesarchivs ist die Sicherung und Konservierung von 111 Kilometern Stasi-Akten, die teils in schlechtem Zustand sind. Volker Höffer sieht in der Übernahme durch das Bundesarchiv ebenso wie Jörn Mothes großes Potential für die langfristige Erhaltung des Bestandes. Geöffnet bleiben die Akten für jeden Antragsteller. Noch bleiben sie, wo sie sind. Wo genau die Akten in Zukunft aufbewahrt werden, ist jedoch noch unklar. Festgelegt hat sich der Gesetzgeber lediglich auf einen zentralen Standort für Mecklenburg-Vorpommern in Rostock. Anne Drescher sagt, die Zusammenführung der Stasi-Akten mit anderen Archivbeständen sei nach 30 Jahren ein logischer Schritt: "Es geht um das Unrecht." Und davon erzähle nicht allein die überlieferte Hinterlassenschaft der Staatssicherheit. Roland Jahn, zehn Jahre lang Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, formuliert es so: "Die Akten werden in das nationale Gedächtnis überführt."