Wie fühlt sich jüdisches Leben heute an?
Eine Kita im Sinne des Reformjudentums
Wie die im Jahre 2007 eröffnete jüdische Kindertagesstätte Tamar, die erste jüdische Kita seit der Shoa in Hannover. Sie ist die bislang einzige frühkindliche Bildungseinrichtung bundesweit, die sich konzeptionell auf Erziehung und Bildung im Sinne des Reformjudentums bezieht. Eine besondere Bedeutung erfährt dort der Umgang mit religiöser und kultureller Diversität, da eine jüdisch-progressive Kita grundsätzlich allen Kindern - unabhängig von Religion und Kultur - offensteht. Gleichwohl ist das Profil der Kita eindeutig jüdisch. So werden ausschließlich jüdische Feiertage und Feste begangen. Auch der wöchentliche Shabbat wird am Freitag besonders gestaltet. An diesem Tag wird gemeinsam das Shabbatbrot, die Challa, gebacken. Der Duft durchzieht die ganze Kita. Im Stuhlkreis wird der jeweilige Thoraabschnitt kindgerecht gelesen, und es wird mit den Kindern altersentsprechend diskutiert, was die biblische Geschichte für das heutige Leben für eine Bedeutung haben könnte. Philosophieren und Diskutieren mit Kitakindern - ja, das geht ganz wunderbar.
Die jüdischen Kinder erleben hier einen vertrauensvollen Ort, an dem sie im geschützten Rahmen ihr Judentum kennenlernen und in ihrer jüdischen Identitätsfindung gestärkt werden. Für nichtjüdische Kinder bietet die Kita Tamar einen authentischen Einblick und ein Eintauchen in jüdisches Leben heute. Die Kinder lernen so früh, auf die religiösen und kulturellen Unterschiede zu achten und ohne Vorurteile und Hemmschwellen gegenüber dem Judentum aufzuwachsen. Diese Erfahrungen und die geschlossenen Freundschaften prägen ein Leben lang und sind ein wichtiger Baustein für das Wachsen gegenseitiger Toleranz und auch ein Schritt hin zur Normalität.
Große Herausforderung für jüdische Gemeinden
Angesichts virulenter Formen des Antisemitismus ist es dringend geboten, religiöse und kulturelle Vielfalt als Normalität, als tagtägliche Lebensrealität wahrzunehmen und anzuerkennen. Zugleich ist es auch erforderlich, die Normalität und Lebensrealität der Kinder der jüdischen Kita wahrzunehmen: Sie müssen von klein auf mit Polizeischutz, Kameraüberwachung und Sicherheitssystemen lernen umzugehen.
Und damit sind wir bei der größten Herausforderung jüdischer Gemeinden heute. Einerseits besteht der Wunsch nach Dialog, der Schaffung eines offenen Hauses, nach Teilhabe an der deutschen Gesellschaft - doch andererseits ist die Existenz von geschützten Räumen erforderlich, nicht nur sicherheitstechnisch, sondern auch im Sinne von mutmachenden Räumen, wo Jüdinnen und Juden ihre jüdische Identität leben können ohne Befürchtungen vor Anfeindungen. Das Dilemma der Gegenwart wird hieran offensichtlich: Das Ziel ist ein jüdisches Selbstbewusstsein und ein positiver Zugang zur eigenen jüdischen Identität. Doch gleichzeitig ist die Sensibilisierung erforderlich, wo und wie Judentum sichtbar nach außen zu zeigen ist, denn Angriffe und Beleidigungen sind für sichtbare Jüdinnen und Juden Alltag.
Intensive Dialogarbeit nötig
In einem sehr bekannten jüdischen Lied von Rabbi Nachman von Braclaw heißt es: "Die ganze Welt ist eine schmale Brücke. Und es kommt darauf an, dass wir uns nicht fürchten." Um das Judentum selbstbewusst und ohne Furcht leben zu können, ist der aktive interreligiöse und interkulturelle Dialog eine notwendige Brücke. So leitet etwa die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover ein vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefördertes Projekt zur antisemitismuskritischen Bildungsarbeit. In dessen Rahmen werden Seminare und Workshops angeboten für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren des Bildungswesens zum Umgang mit Antisemitismus. Des Weiteren gibt es eine enge Kooperation mit der evangelischen Landeskirche und dem Bistum Hildesheim zur Förderung des Miteinanders, indem die Vielfalt jüdischen Lebens für Kinder und Jugendliche durch Begegnungen erlebbar gemacht wird.
An dieser intensiven Dialogarbeit mit diversen Zielgruppen wird die besondere Herausforderung deutlich: Es werden zahlreiche positive, kraftgebende Erfahrungen gesammelt. Gleichwohl sind die jüdischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner auch stets antisemitischen Erfahrungen im Rahmen dieser Dialogarbeit ausgesetzt. Nichtsdestotrotz werden die Notwendigkeit und auch die Erfolge dieser wichtigen Verständigung gesehen.
Schließlich arbeiten wir gemeinsam daran, dass jüdisches Leben in Deutschland gegenwärtig und auch in Zukunft Bestandteil der deutschen Gesellschaft bleibt. Trotz und wegen Auschwitz. Am Israel chai - das jüdische Volk lebt.
- Teil 1: Das Ende des lebendigen Judentums
- Teil 2: Eine Kita im Sinne des Reformjudentums