Vor 80 Jahren wird Flensburg zur "Reichshauptstadt"
In der Marinekriegsschule quartiert sich am 3. Mai 1945 Hitlers Nachfolger Karl Dönitz mit seinen Ministern ein. Der entmachtete SS-Chef Heinrich Himmler irrt durch das Flensburger Umland. Teil 2 einer Chronik.
In der Marinekriegsschule ist für eine Regierungstätigkeit nichts vorbereitet, als Karl Dönitz nachts um 3 Uhr mit rund 350 Bediensteten ankommt. Ursprünglich sollte die Reichsregierung in Ostholstein ihr Notquartier finden. Das neue Staatsoberhaupt schläft kurz auf dem großen Passagierschiff "Patria". Standortkommandant Wolfgang Lüth räumt sein Büro. Dönitz befiehlt am Morgen, den Nord-Ostsee-Kanal als letzte Verteidigungslinie zu halten. Sein Vertrauter Hans-Georg von Friedeburg ist bereits auf dem Weg zum britischen Hauptquartier in Häckingen bei Lüneburg. Ziel ist zunächst die Teilkapitulation im Norden.
Bombenangriff auf Flensburg
Die Ankunft erfolgt nur wenige Stunden nach einem der schwersten Bombenangriffe auf Flensburg des Krieges mit 56 Toten. Der Flensburger Wilhelm Clausen notiert in seinem Tagebuch, dass in der Isolierbaracke des Krankenhauses allein 30 Kinder sterben. Clausen fragt sich, ob Flensburg bis auf den letzten Mann verteidigt werden soll. Auf den Straßen werden Barrikaden errichtet. Einen Tag später wird Flensburg allerdings zur offenen Stadt erklärt.
Der "Reichssender Flensburg" als letztes Sprachrohr
Auch einen Übertragungswagen für den Rundfunk hat Dönitz im Gefolge. Im Hof der Flensburger Post in der Rathausstraße wird dieser mit dem Sendemast im Stadtteil Jürgensby verbunden und somit zum letzten Sprachrohr der NS-Regierung. Am Abend des 3. Mai nutzt bereits Albert Speer die Möglichkeit, eine Ansprache zu halten. Der Reichssender Hamburg schweigt inzwischen.
Das Elend der KZ-Flüchtlinge
Das KZ-Schiff "Ruth" legt an diesem Tag nahe der Marineschule an. Von 1.000 Gefangenen haben nur gut 600 die Fahrt unter schlimmsten Bedingungen überlebt. Auch weitere Flüchtlingstransporte erreichen Flensburg. Es ist auch der Tag, an dem in Pelzerhaken Kriegsmarine und SS 260 Häftlinge erschießen oder erschlagen, die mit den Schiffen "Wolfgang" und "Vaterland" aus dem Osten gekommen sind. Briten bombardieren zudem die KZ-Schiffe "Cap Arcona" und "Thielbeck" in der Lübecker Bucht sowie einen Zug mit jüdischen Zwangsarbeiterinnen bei Lübeck.
90-Einwohner-Dorf Kollerup wird zur Wehrmachtszentrale
Im kleinen Dorf Kollerup (Kreis Schleswig-Flensburg) quartiert sich ebenfalls am 3. Mai der Oberbefehlshaber Nordwest Ernst Busch mit 350 Soldaten ein. Zwei Höfe werden fortan zur Kommando- und Kommunikationszentrale. Kollerup wird abgeriegelt. An diesem Ort wurden zuvor Jugendliche für ihren Einsatz im Kampf ausgebildet. Diese Verbände ziehen ab - und auch die Dorfbewohner rücken zusammen.
4. Mai - Unterzeichnung der Teilkapitulation bei Lüneburg
Am Vormittag des 4. Mai kehrt von Friedeburg zurück nach Flensburg und berichtet: Die Briten verlangen, dass kein Kriegsgerät vernichtet wird. Es könnte noch gebraucht werden. Nach kurzem Zögern entscheidet sich Dönitz, die Bedingung anzunehmen. Von Friedeburg wird wieder nach Lüneburg geschickt. Noch am Tag befiehlt Dönitz das Ende des U-Boot-Krieges. In der Geltinger Bucht (Kreis Schleswig-Flensburg) sammeln sich viele U-Boote. Die Mannschaften bringen ihre Habseligkeiten an Land. Am Abend ist die Teilkapitulation unterzeichnet.
Der Sonderzug von Dönitz wird geplündert
Die Bombenangriffe der Briten laufen unterdessen weiter. Im Bahnhof von Sörup (Kreis Schleswig-Flensburg) endet deshalb die Fahrt des Befehlssonderzuges "Auerhahn", der Wertgegenstände, Akten und Lebensmittel für Dönitz transportiert. Menschen plündern den Zug. Kommandant Asmus Jepsen, der von der geplanten Teilkapitulation gehört hat, befiehlt, nicht zu schießen. Er vernichtet aber die Akten. Anschließend begibt er sich zu seiner Familie nach Neukirchen (Kreis Schleswig-Flensburg). Er meldet sich pflichtbewusst beim Bürgermeister.
5. Mai - Versenkung am frühen Morgen in der Geltinger Bucht
Donnergrollen in der Morgendämmerung eröffnet den Tag an der Geltinger Bucht. Knapp 50 U-Boote sinken auf Grund. Wenige Stunden, bevor die Kapitulationsvereinbarung um 8 Uhr in Kraft tritt, kommt es zur massenhaften Vernichtung von Kriegsgerät. Dönitz hat dies in der Nacht noch untersagt. Doch die U-Boot-Kommandanten handeln entgegen dieser Anweisung. Es bleibt ohne Folgen.
Todesurteile für Fahnenflucht
Mit dem Tod bezahlt dagegen Zug-Kommandant Jepsen die Rückkehr zu seiner Familie. Ein Kriegsgericht in Mürwik verurteilt ihn. Er ist nicht der einzige. Mehrere Soldaten, die Befehle verweigern oder ihre Einheiten verlassen wollen, werden an diesem Tag hingerichtet. Dönitz ordnet an, "Gehorsam und Disziplin mit eiserner Strenge aufrechtzuerhalten".
Die SS taucht unter

Um 10 Uhr sammeln sich im Flensburger Polizeipräsidium zahlreiche SS-Kommandanten, die für die Massenmorde des Holocaust Verantwortung tragen. Es ist die letzte Zusammenkunft. Himmler rät seinen Mitstreitern, unterzutauchen und die Identität zu wecheln. SS-Uniformen bedecken die Flure. In den Schreibstuben werden massenhaft gefälschte Papiere ausgestellt, mit denen sich die SS-Größen als Wehrmachtssoldaten tarnen wollen.
1.600 Flüchtlinge zusammengepfercht auf einem Schiff
Zeitgleich setzt sich das unermessliche Leid der ehemaligen KZ-Insassen fort. Dönitz erfährt von dem Flüchtlingsschiff "Ruth", das ganz in seiner Nähe liegt, und will angeblich erst jetzt den Berichten über KZ-Verbrechen Glauben schenken. 24 Leichen werden am Strand der Marineschule verscharrt, später - am 26. Mai - aber umgebettet. 430 Überlebende werden auf den Dampfer "Rheinfels" umquartiert, wo bis zu 1.600 Menschen eingepfercht sind. Es kommt zu Typhusfällen.
6. Mai - Von Flensburg nach Reims zu weiteren Verhandlungen
Um Mitternacht gibt der Reichssender Flensburg die Teilkapitulation mit einer aufgezeichneten Rede von Dönitz bekannt. Engländer und Amerikaner erreichen nun erst Flensburg. Die Kapitulationsverhandlungen gehen in die nächste Phase. Dönitz will Frieden mit den Westmächten, aber weiter gegen die Russen kämpfen, um nach eigener Aussage die Flüchtlingsrouten aus dem Osten aufrechtzuerhalten. Der Preis wäre der zusätzliche Tod Tausender Soldaten.
Die Amerikaner lassen sich aber nicht darauf ein. Das teilt Rüstungsminister Alfred Jodl am Abend mit, den Dönitz von Flensburg aus zu den Verhandlungen ins französische Reims geschickt hat. Für SS-Chef Himmler ist an diesem Tag die Karriere endgültig beendet: Er begibt sich am Nachmittag in die Marineschule, wo ihn Dönitz aller Ämter enthebt.
7. bis 9. Mai - Die bedingungslose Gesamtkapitulation
Die Amerikaner lassen Jodl keine Wahl. Nur eine bedingungslose Gesamtkapitulation wollen sie akzeptieren. Mit Dönitz ist besprochen, diese nur zu unterzeichnen, wenn es nicht anders geht. Jodl setzt die Unterschrift kurz nach Mitternacht im französischen Reims. Mittags wendet sich der leitende Minister Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk über den Reichssender Flensburg an das deutsche Volk. Auf dem Gebiet der heutigen tschechischen Republik wird dagegen noch mehrere Tage weitergekämpft. Die Rundfunkstation Prag I, die ebenfalls noch sendet, bezeichnet die Meldungen zur Kapitulation als Propagandatrick.
"Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen"
Russland besteht auf einem weiteren Treffen zur Unterzeichnung am Folgetag in Berlin-Karlshorst. Am 9. Mai tritt die Kapitulation in Kraft. Im letzten Wehrmachtsbericht über den Reichssender Flensburg verliest Sprecher Klaus Kahlenberg den berühmten Satz "Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen." In Mürwik machen Dönitz und seine Minister trotzdem weiter. Kapitulation bedeutet für sie nicht, dass die Naziherrschaft beendet wäre.
