Todesmarsch nach Schwerin: Ideologisch verzerrtes Gedenken
Der Todesmarsch für mehr als 20.000 Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen endet in den letzten Kriegstagen Anfang Mai 1945 vor den Toren Schwerins. Allerdings nicht so, wie Gedenksteine und Gedenkstätte es seit Jahrzehnten vermuten lassen:
"Zum Gedenken an den Todesmarsch vom KZ Sachsenhausen bis Schwerin. Befreit durch die Sowjetarmee Anfang Mai 1945"
Diese Inschrift ist auf einem gut einen Meter hohen Findling in der Nähe des Faulen Sees in Schwerin zu lesen. Rund fünf Kilometer östlich vom Standort dieses Gedenksteins befindet sich die Mahn- und Gedenkstätte "Die Mutter" in der Gemeinde Raben Steinfeld im Landkreis Ludwigslust-Parchim. Die unübersehbare, mehr als zwei Meter große Bronzeplastik des Bildhauers Gerhard Thieme steht hier seit 1973 am kleinen Fluss Stör, nahe des Schweriner Ortsteils Mueß. Vier Jahre später wurde die Skulptur um vier Relieftafeln ergänzt, die das Leiden der KZ-Häftlinge und ihre Befreiung durch Soldaten der Roten Armee darstellen.
"Ich wurde von den Amerikanern befreit"
"Schwerin wurde von den Amerikanern befreit und die KZ-Häftlinge wurden sich selbst überlassen", sagt allerdings der Leiter des Schweriner Stadtarchivs Bernd Kasten. Und er ist nicht der einzige, der US-Truppen anstelle der Sowjetarmee in der Rolle der Befreier an dieser Stelle sieht.
Die SS fing in der Nacht zum 21. April 1945 an, das KZ Sachsenhausen aufzulösen. Oljean Ingster gehört zu den Überlebenden dieses Todesmarsches. "Den ersten amerikanischen Jeep habe ich am 4. Mai gesehen. Die sind von Schwerin rausgekommen", erinnerte sich der heute 92-Jährige in einem Gespräch mit dem NDR 2015. "Am Steuer saß ein amerikanischer Soldat, der aussah wie ein Indianer. Der zweite war ein Leutnant, ein Jugoslawe in der amerikanischen Armee, und der dritte war ein farbiger Amerikaner." Auch Zwi Helmut Steinitz hat 1945 den Todesmarsch überlebt. Er sagte bei einem Besuch 2011 in Raben Steinfeld: "Was mir auffiel, dass man nur die Russen als Befreier zeigt. Und ich wurde von den Amerikanern befreit."
Wettlauf zwischen US-Truppen und Roter Armee in Richtung Ostsee
Im April 1945 marschieren die US-Truppen aus dem Westen in Richtung Mecklenburg, die Rote Armee kommt aus dem Osten und rückt hinter dem Todesmarsch der KZ-Häftlinge vor. Der Zug der Tausenden Gefangenen erstreckt sich über mehrere Kilometer. Während die ersten Häftlinge Schwerin bereits fast erreicht haben, befinden sich die letzten in diesen Kolonnen noch östlich der Kleinstadt Crivitz. "Um den 30. April und 1. Mai herum laufen die SS-Bewacher einfach weg und lassen die Häftlinge zurück", beschreibt der Schweriner Stadtarchivar Bernd Kasten die damalige Lage. Für den Historiker ist zudem klar, dass sich die anrückenden Alliierten damals gewissermaßen in einem militärischen Wettlauf zur Ostsee befinden: "Jeder will Erster in Lübeck sein. Das Rennen gewinnen die Amerikaner, die zuerst in Wismar und in Schwerin sind.“ Am 2. Mai 1945 treffen die US-Truppen in Schwerin ein, die Rote Armee erreicht am 4. Mai die Stör zwischen Schwerin-Mueß und dem Dorf Raben Steinfeld.
In den darauffolgenden Wochen bis Ende Juni 1945 werden Tausende KZ-Häftlinge von den Amerikanern in Schwerin untergebracht, versorgt und medizinisch betreut. Die sowjetischen Truppen werden gemäß der Abkommen zwischen den Alliierten Großmächten erst mit dem 1. Juli 1945 neue Besatzungsmacht in Schwerin.
SED-Geschichtsschreibung: US-Befreier passen nicht ins Bild
Mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik 1949 übernimmt die SED nicht nur die politische Macht im Arbeiter- und Bauernstaat, sondern diktiert auch die Geschichtsschreibung. Um 1950 werden entlang der Todesmarsch-Strecke rund 25 Gedenksteine von der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes aufgestellt, immer mit dem gleichen Text, der darauf verweist, dass die Sowjet-Armee die Häftlinge befreit hätte. "Für die hinteren Marschkolonnen zwischen Crivitz und Parchim trifft das noch zu, für die weiter westlichen Kolonnen allerdings nicht", sagt Bernd Kasten und ergänzt: "Die Rote Armee erreichte die Stör erst am 4. Mai. Zu jenem Zeitpunkt gab es keine KZ-Bewacher mehr und auch keine Befreiung im eigentlichen Sinn. Die Häftlinge hier sind, wenn überhaupt, eher von den Amerikanern befreit worden. Das passte aber 1950 nicht ins Bild."
Symbolische Gedenkorte unabhängig von Fakten
Obwohl der KZ-Todesmarsch bei Raben Steinfeld endete, stehen entlang der heutigen Bundesstraße 321 in Schwerin weitere drei Gedenksteine, der letzte ungefähr fünf Kilometer vom eigentlichen Geschehen entfernt am Faulen See. Bernd Kasten vermutet, dass in der mecklenburgischen Landes- und späteren DDR-Bezirkshauptstadt Gedenkorte geschaffen wurden, die "symbolisch für den Todesmarsch vom KZ Sachsenhausen bis in die Stadt Schwerin hinein stehen, nicht nur bis zur Stadtgrenze. Und da hat man sich um historische Fakten nicht geschert."
Neue Erläuterungstafeln statt Abriss
75 Jahre nach Ende des KZ-Todesmarsches spricht sich der Schweriner Stadtarchivar gegen einen Abriss der Gedenksteine aus, denn auch bei anderen Denkmälern zu anderen Ereignissen der vergangenen Jahrhunderte sind Details oftmals nicht korrekt. Bernd Kasten wünscht sich umso mehr neue Erläuterungstafeln. Bereits 2011 wurde neben der Gedenkstätte "Die Mutter" in Raben Steinfeld eine Stele aufgestellt. Diese zeigt ein Foto, auf dem sich Rotarmisten und US-Soldaten an der Stör Anfang Mai 1945 begegnen. Zugleich wird erklärt, dass sich in jenen Tagen Truppen beider Armeen den Häftlingen auf dem KZ-Todesmarsch näherten und wer wann Schwerin befreite - nämlich die amerikanischen Truppen und nicht die der Roten Armee. Auf vielen Seiten im Internet, die sich mit jenen Ereignissen 1945 befassen, ist allerdings nach wie vor die aus DDR-Zeiten stammende verfälschte Geschichtsschreibung nachzulesen.