"Wenn ich in Ahlem bin, sage ich: 'Hallo, Vati'"
Vor 70 Jahren haben amerikanische Truppen das KZ Hannover-Ahlem befreit. 750 Gefangene starben dort an Hunger und Seuchen oder wurden von den Nationalsozialisten ermordet und zu Tode gefoltert. Die meisten Gefangenen zwang die SS noch kurz vor der Befreiung am 10. April 1945 zu einem Todesmarsch in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Heute erinnert in Ahlem eine Gedenkstätte an die Gräueltaten der Nationalsozialisten. Die Jüdin Ruth Gröne besucht sie regelmäßig - und erinnert sich dabei an ihre eigene Familiengeschichte.
In der Gedenkstätte ist sie ihrem Vater nah
Am Eingang der Gedenkstätte hängt ein großes Schwarz-Weiß-Foto von Ruth Grönes Vater. Erich Kleeberg, so sein Name, trägt darauf einen stattlichen Anzug, seine Haare sind sauber zurückgekämmt, seine Augen sehen sanft und gutmütig aus. Ruth Gröne hat ihren Vater hier als junges Mädchen zum letzten Mal gesehen. Noch heute schmerzt sie der Gedanke daran. "Immer wenn ich hierher komme, dann begrüße ich ihn, als wäre er da. 'Hallo Vati, Schön, dass deiner hier gedacht wird.' Es ist jedes Mal schmerzlich, aber es ist auch eine große Freude. Für mich ist das ein Wunder, dass diese Gedenkstätte hier entstanden ist", sagt sie.
Verhaftung wegen Getreide
Ruth Gröne war zehn Jahre alt, als sie mit ihrem Vater und ihrer Mutter ins sogenannte Judenhaus in Ahlem ziehen musste. Die Nationalsozialisten missbrauchten die ehemalige Gartenbauschule als Sammelstelle für Deportationen. Auf dem Gelände gab es auch ein Gestapo-Gefängnis, in das Ruth Grönes Vater im November 1944 gesperrt wurde. Der Grund: eine Lappalie. Auf dem Feld, beim Dreschen im Herbst, fallen Körner herunter. "Mein Vater und noch ein anderer jüdischer Mann haben dieses Korn aufgefegt und durch ein Sieb gerüttelt, für die Kaninchen. Das ist verraten worden. Und da sind Herr Samuel und mein Vater von der Gestapo verhaftet worden", erzählt Ruth Gröne.
Abschiedbriefe in der Wäsche
Nur zwei Mal durfte Ruth Gröne ihren Vater im Gestapo-Gefängnis in Ahlem besuchen. Er litt sehr unter Hunger. In seiner Wäsche versteckte er Abschiedsbriefe, die er heimlich an seine Frau und seine Tochter geschrieben hatte. Er machte sich große Sorgen um seine Familie. "Er schrieb, dass ich mich um meine Mutter kümmern soll, dass ich immer brav und artig sein soll, ihr gehorchen soll. Er wusste nicht, ob er überlebt, ob wir auch den Krieg überleben. Es hätte ja sein können, dass ich auch noch in ein Lager gekommen wäre", sagt die Tochter.
Irgendwann war der Vater fort
Ruth Gröne kann sich genau an den Augenblick erinnern, als sie ihren Vater zum letzten Mal sah. Damals ging sie als junges Mädchen jeden Tag am Gestapo-Gefängnis in Ahlem vorbei und versuchte, ihn hinter den Gitterstäben zu entdecken. "Ich habe ihn immer oben am Fenster gesehen. Er hat schon gewartet. Bis ich ihn eines Tages nicht an dem Fenster gesehen habe, sondern an einem anderen. Da hatte er den Mantel an und seine Mütze auf. Es war für mich ein Zeichen, dass er das Gebäude verlässt. Er fuhr weg, und wir Kinder haben noch gewunken. In dem Moment war mir nicht so bewusst, dass es der letzte Moment ist. Eigentlich haben wir nur 'Tschüss' gewunken. Im Nachhinein, in der Erinnerung, da kommt dieses Bild natürlich immer wieder."
Am Tag der Befreiung stirbt der Vater
Ruth Grönes Vater wurde von Ahlem aus in das KZ Neuengamme deportiert. Schließlich kam er in das Lager Sandbostel bei Bremervörde. Dort starb er am 10. April 1945 an Typhus. Es ist ausgerechnet der Tag, an dem das KZ Ahlem befreit wurde. "Die Befreiung haben wir im Bunker erlebt. Das Wunderbare war, dass die Nazis nicht mehr da waren. Manche fragen: 'Haben Sie gefeiert?' Ich antworte immer: 'Nein, wir haben nicht gefeiert. Wir haben gehofft, dass wir unsere Angehörigen wiedersehen.'"