Vor 35 Jahren: "Abgesang" auf die DDR-Jugendbewegung FDJ
Am 4. November 1989 singen Schauspieler im Schweriner Staatstheater noch einmal die alten Lieder der FDJ. Gegründet wurde die größte Jugendbewegung der DDR 1946. "Frei und überparteilich" bleibt die FDJ allerdings nicht lange.
In Mecklenburg beginnt die Geschichte der Freien Deutschen Jugend (FDJ) beim Gründungs-Festakt feierlich mit der Ouvertüre aus Ludwig van Beethovens "Egmont". Das Schweriner Staatstheater ist an diesem Sonntag, den 10. März 1946, restlos überfüllt. "Jungen und Mädchen von Schwerin, seid euch der Größe der Stunde bewusst, Schwerin ist der große Meilenstein in der Geschichte der Freien Deutschen Jugend!", erklärt Edith Baumann, die damalige Stellvertreterin und spätere zweite Ehefrau Erich Honeckers, in ihrer Festrede: "Und wenn einmal die Geschichte der deutschen Jugendbewegung nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes geschrieben werden soll, dann wird es heißen, dass der immer als so reaktionär bezeichnete Bezirk Mecklenburg-Vorpommern es war, der in seiner Landeshauptstadt den ersten Meilenstein der Freien Deutschen Jugend gelegt hat."
FDJ: "Überparteilich, einig und demokratisch"
Gruppen mit dem Namen "Freie Deutsche Jugend" gibt es bereits während des Zweiten Weltkriegs. Sie werden von deutschen Flüchtlingen im Exil gegründet. Bereits wenige Wochen nach Kriegsende genehmigt die sowjetische Militäradministration die Bildung von "antifaschistischen Jugendkomitees". Zugleich verbietet sie jedoch die Gründung anderer Jugendorganisationen. Am 7. März 1946 wird die FDJ formell gegründet und Erich Honecker zu ihrem Ersten Vorsitzenden ernannt. "Überparteilich, einig und demokratisch" soll die neue Jugendbewegung sein.
Von der Überparteilichkeit zur "Kampfreserve" der SED
Doch mit der Überparteilichkeit der FDJ ist es bald vorbei. Die Gründung der SED und wenige Jahre später auch die Gründung der DDR tun nicht unwesentlich dazu bei. Bereits auf dem III. Parlament der Jugendfreunde 1949 bezeichnet der Verband sich als aktiver Helfer der politisch fortschrittlichen Kräfte. 1952 erkennt die FDJ in ihrem Statut die führende Rolle der SED an. 1957 ist sie endgültig auf ihre Rolle festgelegt als "zuverlässiger Helfer und Kampfreserve der Partei der Arbeiterklasse".
Kaum ein Jugendlicher in der DDR kommt an der FDJ vorbei
In der Bundesrepublik wird die FDJ 1951 verboten. In der DDR kommt an ihr bald kaum ein Jugendlicher vorbei - von der Pionierorganisation für die Jüngeren bis hin zum "gesellschaftlichen Engagement" in Schule und Studium. Formal ist die Mitgliedschaft im einzigen zugelassenen Jugendverband zwar freiwillig, doch in Wirklichkeit hat mit Benachteiligungen zu rechnen, wer die Mitgliedschaft verweigert. Schwer wird es für Schüler beispielsweise bei der Zulassung zur Erweiterten Oberschule (EOS), die den Zugang zum Abitur und zu einem Hochschulstudium entweder ermöglicht oder aber eben einschränkt. Am Ende der DDR sind 1989 immerhin 88 Prozent aller Jugendlichen Mitglied der FDJ. Pro forma. Denn: Auch das DDR-Zentralinstitut für Jugendforschung stellt zwischenzeitlich in nicht veröffentlichten Untersuchungen fest, dass die Kritik der Jugendlichen an der Organisation wächst, echte Verbundenheit hingegen schwindet.
Kampf um Mitglieder - und gegen die Junge Gemeinde
In ihren Gründungsjahren hat die FDJ zunächst erhebliche Mühe, Mitglieder auf freiwilliger Basis zu gewinnen und zur Massenorganisation zu werden. 1947, noch vor Gründung der DDR, sind lediglich 16 Prozent aller Jugendlichen in dem Jugendverband organisiert. Das ändert sich im Laufe der Jahre, auch durch politischen und propagandistischen Druck. Als Konkurrenz erweist sich in der Nachkriegszeit die kirchliche Jugendarbeit. Insbesondere die Junge Gemeinde in der evangelischen Kirche der DDR zieht junge Menschen an - und bekommt es prompt mit Repressionen zu tun. Anfang der 1950er-Jahre werden christliche Schüler verfolgt. An Schulen wie der Schweriner Goetheschule kommt es zu Schulversammlungen, die Schauprozessen gleichen. Schüler werden kritisiert, vorgeführt, beschimpft und von den Schulen verwiesen. In einer Kampagne des FDJ-Organs "Junge Welt" steht am 1. April 1953, die Junge Gemeinde sei eine "Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USA-Auftrag". Auch wenn die Schulverweisungen später zurückgenommen werden: Viele der relegierten Schüler sind da längst in den Westen geflohen.
Lieder sollen auf die Ideale des Sozialismus einschwören
Dabei sind mit der Gründung des Jugendverbandes kurz nach der Katastrophe des Krieges auch Hoffnungen verbunden. Sie finden etwa Ausdruck im Gesang, der zum wesentlichen Bestandteil der FDJ wird. Bereits 1946 erscheint das erste Liederbuch mit "Massenliedern für die Jugend", die die jungen Leute auf die Ideale des Sozialismus einschwören sollen. "Weg der alte, her der neue Staat! Fort mit den Trümmern und was Neues hingebaut! Um uns selber müssen wir uns selber kümmern und heraus gegen uns, wer sich traut", heißt es etwa im Aufbaulied der FDJ, 1948 komponiert von Paul Dessau, getextet von Bertolt Brecht. Von Brecht stammt auch der Text des Solidaritätslieds, das mit den Zeilen beginnt: "Vorwärts, und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht, beim Hungern und beim Essen, vorwärts und nicht vergessen die Solidarität!"
Grabgesänge auf die FDJ in Schwerin
So wie die Geschichte der FDJ in Mecklenburg-Vorpommern am 10. März 1946 im Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin mit Musik beginnt, endet sie im Grunde auch dort - ebenfalls mit Musik: Der Regisseur Christoph Schroth begeistert Ende der 80er-Jahre mit einem legendären Liederabend, bei dem 50- bis 60-jährige Schauspieler die alten FDJ-Lieder aus ihrer Jugendzeit singen. Die Sänger stehen dabei vor einem fahnenroten Hintergrund, über ihnen hängt ein Wandbild mit ihren Jugendfotos. Erinnerungen werden wieder wach: an die Nachkriegsjahre und an die Hoffnung, die der Sozialismus damals keimen ließ.
"Wir standen oben und haben geheult, und die saßen unten und haben geheult", erinnern sich die mittlerweile verstorbenen Ekkehard Hahn und Ingrid Michalk 2006 in einem Interview mit NDR 1 Radio MV. In der Endphase der DDR besingen die Schauspieler den Abschied von den Idealen ihrer Jugend - Ideale, die über 40 Jahre zuvor am selben Ort verkündet worden waren. Michalk ist damals neben ihren Bühnen-Engagements durch die Shakespeare-Verfilmung "Viel Lärm um nichts" von 1964 bekannt. Hahn kennt ein größeres Publikum durch Hörfunk- und Fernsehauftritte. Beide Schauspieler sind auch an der Entwicklung des FDJ-Liederabends beteiligt: "Ich erinnere mich sehr genau, wie wir für diesen Abend diese Lieder alle gesichtet haben", erzählt Michalk später. "Ein Stück Jugend kam da wieder hoch. Manchmal mit großem Erschrecken - manchmal haben wir uns auch ausgeschüttet vor Lachen." Und Hahn ergänzt damals: "Als wir die Lieder einstudierten, stand uns dauernd das Wasser in den Augen."
"Das ist ja eigentlich ein toller Text"
"Das Entscheidende war aber", resümiert Hahn 2006, "dass wir diese Lieder ganz anders sangen, als wir sie damals gesungen haben. Also nicht im Marschschritt, wo man immer durchhörte: 'Rumms, rumms, rumms, rumms, das neue Leben muss anders werden.' Man konnte marschieren dazu. Das haben wir geändert. Die Lieder kriegten plötzlich einen Tiefgang, der vorher nicht drin war, nach dem auch keiner gesucht hat. Man dachte: Mein Gott, das ist ja eigentlich ein toller Text, den wir da gesungen haben." Die alten Texte entfalten eine eigene Wirkung, auch wenn es in einer Liedzeile heißt: "Das neue Leben muss anders werden als dieses Leben, als diese Zeit ... wenn wir uns alle die Hände geben, kommt neues Leben auch in unser Land".
Am 4. November 1989 bringt Christoph Schroth in Schwerin als Folgeproduktion für den FDJ-Liederabend deutsche Volkslieder auf die Bühne. "Wo mag denn nur mein Christian sein, in Hamburg oder Bremen?", erklingt es in einem der Lieder, einer Weise aus dem 19. Jahrhundert. Fünf Tage später fällt in Berlin die Mauer, die Grenzen öffnen sich.
Trauer über verbogene und verlorene Ideale
Am 3. Oktober 1990 steht das Ensemble des Mecklenburgischen Staatstheaters zum Fest der Deutschen Einheit auf der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Die Schauspieler singen die FDJ-Lieder. Zum Abschied. Ingrid Michalk erzählt 2006 im Interview, wie sehr der FDJ-Liederabend sie in ihre Jugendzeit zurück versetzt hatte: "Ich weiß, dass wir die Lieder teilweise mit Inbrunst gesungen haben, auch mit dem guten Glauben, im besten Land der Welt zu leben. Die permanente Frage war: 'Bist Du für den Frieden? Ja, dann bist Du für alles.' Dieser Tenor schwingt in all diesen Liedern mit." Dass diese Ideale im Lauf der Jahrzehnte den "Bach runtergegangen" seien, habe sie mit einer großen Trauer überzogen. Und so leistete dieser FDJ-Liederabend auch für andere ein Stück Trauerarbeit: Wie in einer Art Bumerang-Bewegung wurden hier die Propaganda-Lieder der FDJ zu Grabgesängen auf die DDR und ihren gescheiterten Gesellschaftsentwurf.