VIDEO: Geiselgangster mit Herz (Panorama, 1995) (9 Min)

Vor 30 Jahren: "Santa-Fu"-Ausbrecher werden gefasst

Stand: 02.11.2024 05:00 Uhr

Am 2. November 1994 werden zwei geflohene Insassen der JVA Hamburg-Fuhlsbüttel in Hessen gefasst. Sie waren am 10. Oktober ausgebrochen. Auf ihrer Flucht nahmen die Schwerverbrecher auch Geiseln.

Der Strafvollzug in der Hansestadt gilt seinerzeit innerhalb Deutschlands als liberal. Immer wieder kommt es zu Ausbrüchen aus der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel, im Volksmund "Santa Fu" genannt, - so auch am 10. Oktober 1994. An diesem Montag durchsägen die Häftlinge Gerhard P. und Raymond A. die Gitterstäbe ihrer Zellen. Anschließend seilen sich die Schwerverbrecher an einem 28 Meter langen Elektrokabel aus dem fünften Stock ab. Mit einer selbstgebastelten Leiter überwinden sie bei dichtem Nebel Zäune und die Gefängnismauer. P., genannt der "Knast-Schlosser“, ein begabter Mechaniker, hatte sich das Werkzeug aus der Gefängnis-Schlosserei besorgt - und keiner hat es anscheinend gemerkt.

JVA Fuhlsbüttel ist bekannt für katastrophalen Vollzug

Wachturm der JVA Fuhlsbüttel in den 1990er-Jahren © picture-alliance / dpa Foto: Stefan Hesse
Rund 1.100 Gefangene sind in den 1990er-Jahren in Santa Fu untergebracht. Immer wieder kommt es zu Ausbrüchen.

"Santa Fu und raus bist du!" heißt eine Schlagzeile über das bekannteste Hamburger Gefängnis auch deswegen, weil viele der Inhaftierten aus dem über 100 Jahre alten Kasten ausbrechen, ihren Freigang oder Hafturlaub zur Flucht nutzen. Die JVA im Stadtteil Fuhlsbüttel ist in den 1990er-Jahren außerdem berühmt für Revolten, Meutereien, Drogenhandel, Gewalt und Überbelegung. Alles in allem herrscht dort ein katastrophaler Vollzug.

Seiten eines Kalenders © Fotolia_80740401_Igor Negovelov
AUDIO: "Santa Fu - und raus bist Du" (14 Min)

Ausbrecher können Flucht problemlos planen

Auch die Flucht von P. und A. wird von Pannen begünstigt: Wärter kontrollieren die Zellen nicht, die entwendete Säge von P. bleibt auch deswegen unentdeckt. Ebenso werden Gänge und Anstaltswerkstätten nur mangelhaft überwacht. Und dort, wo andere Häftlinge Tüten kleben, schweißen P. und A. in aller Ruhe ihre Fluchtleiter zusammen. Auch die nächtliche Überwachung des Geländes durch das Wachpersonal bleibt, obwohl dokumentiert, aus. Dadurch wird die Flucht über Stunden nicht bemerkt.

Der parteilose Justizsenator Klaus Hardraht gesteht im NDR später ein: "Die Bewachung des Geländes in der Nacht ist nicht so durchgeführt worden, wie es vorgeschrieben ist. Es haben zwei Wachleute in das Wachbuch eingetragen, sie wären dort gegangen. Da sind sie aber nicht gegangen." Den Beamten droht in der Folge ein Disziplinarverfahren.

Schon der zweite Ausbruch aus "Santa Fu"

Die Summe aller Sicherheitslücken erleichtert P. und A. die Flucht. Und es ist nicht P.s erster Ausbruch aus der JVA Fuhlsbüttel, schon einmal ist der verurteilte Erpresser 1988 aus der Anstalt geflüchtet. Eine folgenschwere Flucht, die sich auch auf Mitgefangene, die dort regelkonform leben, auswirkt. Für sie folgen strenge Auflagen. So dürfen sie beispielsweise kein Bücherregal mehr in der Zelle haben. Obwohl verantwortliche Politiker bereits nach dem ersten Ausbruch mehr Sicherheit versprechen, verändert sich in den folgenden sechs Jahren wenig. Es bleibt bei bloßen Ankündigungen. Die Außensicherung ist noch immer nicht elektronisch, als P. und A. 1994 ausbrechen.

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Ein Ausbrecher war zu DDR-Zeiten Elite-Kämpfer der NVA

Was macht die beiden Schwerverbrecher so gefährlich? A. war Kämpfer bei der Nationalen Volksarmee (NVA), er gehörte vor dem Mauerfall einer ehemaligen Elite-Einheit der DDR an. Ausgebildet im Fallschirmjäger-Bataillon 40 in Lehnin bei Potsdam, besaß er die "Lizenz zum Töten". Und er war darauf spezialisiert, westdeutsche Politiker zu entführen. In Fuhlsbüttel verbüßte er eine Strafe wegen Mordes an einem Wirt aus Stuttgart. Die stellvertretende Anstaltsleiterin Claudia Dreyer betitelte ihn in der Zeitung "nd" (ehemals "Neues Deutschland") als "außergewöhnlichen Gefangenen", der "mit einem hohen Maß an krimineller Energie" ausgerüstet sei. Der Schweizer P. saß wegen räuberischer Erpressung ein.

Polizeibeamte in der Gewalt der Geiseln

Einsatzfahrzeuge der Polizei tanken am Abend des 31.10.1994 an der Raststätte Wilsdruff bei Dresden auf der Autobahn A4 während der Verfolgungsjagd der Geiselgangster Gerhard P. und Raymond A. © picture alliance / ZB Foto: Jan-Peter Kasper
Die Polizei nimmt die Verfolgungsjagd durch mehrere Bundesländer auf. Hier tanken Einsatzfahrzeuge an einer Raststätte bei Dresden auf.

Drei Wochen nach ihrer spektakulären Flucht aus Fuhlsbüttel tauchen P. und A. wieder auf. Am 31. Oktober nehmen sie zwei Polizeibeamte in Baden-Württemberg bei einer Personenkontrolle als Geiseln. Zunächst sind die Beamten stark verängstigt. Das ändert sich, als sich A. als Sympathieträger entpuppt. "Nach einiger Zeit war ich mir sicher, die tun uns nichts", sagt die Polizistin Silke S. in ihrer späteren Vernehmung. A. habe sich sogar bei ihr dafür entschuldigt, ihr die Pistole an den Kopf gesetzt zu haben. Mit den Polizisten in ihrer Gewalt rasen die Entführer in Richtung Fulda. Ihr Plan: ein Banküberfall. Danach wollen sie die Beamten freilassen. Was bei aller Dramatik der Lage skurril anmutet: In Fulda helfen die Polizisten ihren Entführern noch, eine geeignete Bank zu finden. Beim Abschied schütteln die Entführer ihren Geiseln dann die Hand und wünschen der Beamtin Silke S. viel Glück bei der Ausübung des Berufs als Polizistin.

Flucht durch Thüringen bis nach Hessen

P. und A. setzen ihre Flucht fort, in Thüringen werden sie von der Polizei entdeckt. Weil die Beamten den Tank des Fluchtwagens beschädigen, nehmen die Schwerverbrecher drei neue Geiseln: ein Ehepaar mit seinen beiden Kindern und ein weiterer Mann. A. lässt die Kinder allerdings gleich wieder frei, die Flucht geht weiter. In Gotha steuern sie ein Krankenhaus an, weil eine der Geiseln verletzt ist. Die Klinik ist voller Scharfschützen. Ein Arzt lehnt aus Angst Hilfe ab. In der Nacht verlangen die Geiselnehmer nach einem Notarzt, der aber nicht kommt. Die Polizei verliert den Fluchtwagen schließlich aus den Augen. P. und A. lassen ihre drei Geiseln schließlich frei. Ihren Opfern bieten sie noch Geld für den erlittenen Schaden an.

Irrfahrt endet nach 36 Stunden in Hessen

Ein Hubschrauber der Polizei kreist über Polizeifahrzeugen und einem Rettungswagen in der Luft. © picture alliance / Frank Kleefeldt Foto: Frank Kleefeldt
Großaufgebot der Polizei: Im hessischen Driedorf werden die Geiselnehmer von allen Seiten eingekreist.

Am nächsten Morgen entdecken Beamten die Geiselnehmer auf einem Campingplatz im hessischen Driedorf. Nach 36 Stunden und der Irrfahrt durch drei Bundesländer endet hier die Flucht. Die Flüchtenden werden zunächst eingekreist, vor Ort sind Hubschrauber, Panzerwagen, Hundestaffel und eine Einheit der Antiterror-Einheit GSG9. Erinnerungen an die Geiselnahme von Gladbeck werden wach: wegen der Presse, die über die vermeintliche Brutalität der Täter berichtet. In den Schlagzeilen der "Bild"-Zeitung sind sie die "Geisel-Ungeheuer" - die Realität ist eine andere. "Objektiv gesehen, waren die beiden in ihrem Verhalten mitmenschlich, ohne auszuflippen oder sich an den anderen abzureagieren", resümiert Klaus Thiessen, Psychologe bei der Hessener Polizei später das Verhalten der Täter.

Erinnerungen an Gladbecker Geiseldrama werden wach

Nur mit Mühe kann die Polizei Journalisten und Kamerateams dazu bewegen, Abstand zu nehmen, und aus der Schusslinie zu gehen. Ein weiteres Problem: Immer mehr Schaulustige kommen im Laufe des Tages, um zu sehen, was los ist. Doch die Beamten vor Ort agieren erfolgreich, sie überwältigen zunächst P., dann stellt sich am Abend auch A. Zu Ende geht ein Geiseldrama, das glimpflich abgelaufen ist - ohne Tote und Schwerverletzte. Auch dank besonnenen Handelns der Polizei, die aus Gladbeck gelernt und weniger Druck auf die Geiselnehmer ausgeübt hat.

Konsequenzen nach Ausbruch in JVA Fuhlsbüttel

In Hamburg wird derweil an der Aufarbeitung der Flucht gearbeitet: Wie soll ein neuer Ausbruch in Zukunft verhindert werden? Justizsenator Hardraht hält die "Anstalt 2" für ein relativ sicheres Gefängnis im Vergleich zu anderen Anstalten in der Bundesrepublik. Ihm gehe es um eine weitere Anhebung des Sicherheitsstandards, sagt er dem NDR: "Wir müssen die innere Sicherheit verbessern, wir müssen die Zustände in den Zellen verbessern und vor allem dieses menschliche Versagensmoment so weit wie möglich ausschalten." Durch ein umfassendes elektronisches, optisches Sicherungssystem in Form von Bewegungsmeldern wolle man versuchen, Schwachstellen zukünftig zu vermeiden. Darüber hinaus gibt es personelle Konsequenzen: Anstaltsleiter Hans-Jürgen Kamp muss gehen. Jobst Pönighausen aus der offenen Anstalt JVA Vierlande ersetzt ihn.

"Auch Verbrecher können anständige Menschen sein"

Unter starken Sicherheitsvorkehrungen beginnt am Freitag vor dem Stuttgarter Landgericht der Prozeß gegen die beiden Geiselgangster Raymond Albert und Gerhard Polak. © picture-alliance / dpa | frm
Am 10. November beginnt der Prozess gegen P. und A. unter starken Sicherheitsvorkehrungen.

Und die Geiselnehmer? "Auch Verbrecher können anständige Menschen sein. Wenn etwas herauskam bei dem Prozess gegen die Fuhlsbüttel- Ausbrecher und Geiselnehmer ... vor der 5. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart, dann dies", schreibt die "taz" nach dem Urteil. Eine Tötungsabsicht kann das Gericht nicht feststellen. Neben der Geiselnahme wird ihnen Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen. Beide Täter werden im Dezember 1995 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt: P. erhält 13 Jahre, A. elf Jahre.

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Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 13.10.2024 | 19:30 Uhr

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