Urlaub für Kriegsgewinnler: Ostseetourismus im Ersten Weltkrieg
Der Kriegsbeginn 1914 bedeutet für die Bevölkerung in Deutschland vor allem vier Jahre lang Hunger und Mangel. Nur eine Branche boomt in dieser Zeit trotzdem: der Tourismus in den Ostseebädern.
Der Sommer 1914 ist für die Ostseebäder eine Rekordsaison. Bei bestem Wetter strömen so viele Gäste an die mecklenburgische Küste wie nie zuvor. Doch mit dem Kriegsbeginn am 1. August endet das Urlaubsvergnügen. Alle Familien mit wehrpflichtigen Männern reisen sofort ab, die Züge sind überfüllt, an den Bahnhöfen herrscht Chaos - und die Strände sind von jetzt auf gleich leer.
Hoteleröffnung zu Kriegsbeginn
Erst kurz zuvor hat der "Polar-Stern" in Brunshaupten, dem heutigen Kühlungsborn-Ost, eröffnet. Das Hotel ist ein wichtiger Teil der Familienchronik von Karin Lux-Haacker. Lange war ihr nicht klar, was für einen schwierigen Start ihr Urgroßvater Ludwig Schurich damit hatte. Mit dem "Polar-Stern" wollte er gerade erst so richtig Fuß fassen in der Hotelbranche: "Er war erst Schmied und dann hatte er eine Kantine in Güstrow und hat damit das Militär versorgt. Und er war wohl sehr sparsam, konnte sich ein Vermögen aufbauen und so den 'Polar-Stern' kaufen." Doch das zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt: Am 5. August wird Ludwig Schurich ins Grundbuch geschrieben - nur vier Tage nach Kriegsbeginn.
500.000 Mark für die Ostseebäder
Damit steht Ludwig Schurich, wie Hunderte Familien in den Ostseebädern, plötzlich vor dem Nichts. Viele haben in den vergangenen Jahren investiert und leben bereits ausschließlich von den Sommergästen. Als klar ist, dass der Krieg länger dauert, bricht Panik aus. Die Rostocker Historikerin Antje Strahl hat recherchiert, wie das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin damals mit der bisher wachsenden Tourismusbranche umgeht: "Anfang 1915 wurden Stimmen laut, dass gerade dieser Wirtschaftszweig gestützt werden müsste. Der hatte bis dahin nicht nur den Gemeinden Steuern gebracht, sondern auch dem Land. Deshalb wollte man nicht, dass er innerhalb von ein, zwei, drei Kriegsjahren total bankrottging." Das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin gewährt deshalb einen Sonderkredit - 500.000 Mark für sieben Ostseebäder. Allein Brunshaupten bekommt davon 140.000 Mark.
Kriegsgewinnler im Ostseeurlaub
Die Ostseebäder können damit trotz des Kriegs wieder um Badegäste werben - und die kommen auch. Im zweiten Kriegssommer 1916 beherbergt allein Brunshaupten 15.000 Sommerfrischler, also Urlauber. Um die zu versorgen, erbitten die Seebäder Sonderrationen an Lebensmitteln. Ihre Begründung: Es würden vor allem erholungsbedürftige Frauen und Kinder anreisen, sowie körperlich und geistig zusammengebrochene Beamte. Tatsächlich kommen aber andere Leute, wie Antje Strahl erklärt: "Es war sicherlich auch die ein oder andere Kriegerwitwe dabei, aber die meisten konnten sich das gar nicht leisten. Diejenigen, die kamen, waren wohlhabende Familien, Adlige und die gehobene Mittelschicht, wo der Mann in einem Wirtschaftszweig arbeitete, der sicher war. Und das war vor allem die Kriegsindustrie."
Schmuggler-Netzwerk von Brunshaupten bis Berlin
Wer Aufträge durch das Militär hatte, zum Beispiel mit Stahl und -Textilunternehmen, der verbringt die Kriegssommer wochenlang an der Ostsee. In den Städten Hamburg und Berlin spricht sich schnell herum, dass die Sommerfrischler dort nicht nur das Meer genießen können. Sie reisen vor allem an, um das strikte Rationierungssystem zu umgehen: "Auch an der Küste galt diese Rationierung, also auch hier wurden Lebensmittel wie Fleisch, Eier und Getreide auf Lebensmittelkarten abgegeben. Aber wer Geld hat, konnte sich mehr leisten und der Schwarzmarkt blühte", erklärt Antje Strahl. Über ein Schmuggler-Netzwerk aus Bauern, Bäckern und Schlachtern landet dort alles. Schon am Abend der Anreise füllen die Gäste ihre Koffer: "Da spielte Geld keine Rolle. Da wurde Schinken für 20 Mark verkauft - das waren enorme Preise. Und diesen Schinken gab es unterm Ladentisch", so die Historikerin.
Wut auf Sommerfrischler wächst
Je mehr sich dieser Schleichhandel ausweitet, umso schlechter geht es den Einheimischen. Während die Sommerfrischler schlemmen, stehen sie einen halben Tag lang für ein Brot in der Bäckerschlange. Doch der Schleichhandel bleibt nicht unentdeckt: Die Zeitungen füllen sich mit Leserbriefen, in denen die Einheimischen ihrem Ärger über die Sommergäste Luft machen. Im Juli 1917 schreibt Fräulein Anna von Schack aus Doberan sogar an das Kriegsernährungsamt in Berlin: "Die Straßen wimmeln voll Fremden, sie gehen in Gärten und kaufen alles fort. Im Namen Vieler bitte ich deshalb, dass die Badegäste verweigert werden. Es ist eine bitterböse Stimmung und das Volk ist voller Wuth schon."
Gendarmerie beschlagnahmt 60.000 Eier
So weit kommt es nicht - die Badegäste dürfen weiterhin anreisen. Doch das Ministerium des Innern in Schwerin und die Kreisbehörden versuchen, den Schleichhandel zu bekämpfen. An den Bahnhöfen kontrolliert die herzogliche Gendarmerie das Rückreisegepäck und beschlagnahmt allein im Jahr 1918 rund 6.000 Kilo Fleisch, 60.000 Eier und 80.000 Kilo Kartoffeln - für Historikerin Strahl war das wohl nur die Spitze des Eisbergs: "Männer waren rar im Land, deshalb hatte man gar nicht die Kapazität, diese Masse an Gepäckstücken tatsächlich zu kontrollieren." Auch die Pakete der Reisenden können in den Postämtern kaum kontrolliert werden. Die Gendarmerie muss auch die Postbeamten überwachen, denn die sind ebenfalls bestechlich.
Polizisten tarnen sich als Bädegäste
Vereinzelt wird auch in den Hotels kontrolliert, ob diese die Lebensmittelrationierung einhalten. Dafür schleusen sich Polizeibeamte als Sommergäste ein. Einer von ihnen schreibt im Juli 1917 in seinen Bericht: "Am Dienstag, also einem Tage, wo die Abgabe von Fleisch untersagt ist, wurden mir drei Stullen mit Schinken belegt, verabreicht ohne Fleischmarken." Drei Hotels, in denen das öfter passierte, darunter das Kurhaus in Brunshaupten, werden geschlossen. Im September 1918 fliegt außerdem ein weit verzweigter Schmugglerring auf: darunter 19 Schlachter, elf Kaufleute aus Kröpelin, Neubukow und Doberan, sieben kleinere Händler aus Brunshaupten und 30 Bauern. Insgesamt 100 Personen können die Polizeibeamten mit dem Schleichhandel in den Badeorten in Verbindung bringen.
Nur Tourismusbranche profitiert
Die Staatsanwaltschaft Rostock fordert sogar, die Ostseebäder zu schließen - doch dazu kommt es nicht. Die Behörden dulden weitgehend die Eskapaden der Badegäste und finden entschuldigende Worte. Die Bilanz der Seebäder nach vier Kriegsjahren: Sie brauchten den Sonderkredit von 500.000 Mark nicht einmal zur Hälfte. Insgesamt wurde 136 Personen in sieben Badeorten ein Kredit gewährt, jeder erhielt etwa 1.600 Mark. Mehr als die Hälfte der Hoteliers zahlte noch vor Kriegsende im Oktober 1918 sämtliche Schulden zurück. "Kleine Handwerksbetriebe, Mühlen, Brauereibesitzer - all diese Wirtschaftszweige haben nichts gekriegt. Der einzige Wirtschaftsbereich, der diesen Sonderfallschirm bekam, war der Tourismus. Und der ist damit klar bevorzugt worden", so das Fazit von Antje Strahl.
Auch der "Polar-Stern" übersteht den Krieg
Der "Polar-Stern", der genau im Sommer 1914 eröffnete, steht bis heute. Aus der Kriegszeit existiert nur ein einziges Foto von Ludwig Schurich und seinem Hotel. Karin Lux-Haacker kann sich aber heute gut vorstellen, wie ihr Urgroßvater diese Zeit überstanden hat: "Wahrscheinlich hatte er auch so seine Beziehungen, er musste ja irgendwie den Betrieb aufrechterhalten. Er ist über die Zeit einfach der Unternehmer geworden und hat das mit Bravour gemeistert."