Thomas Mann sitzt an einem Schreibtisch in einem Brüsseler Hotel. © picture-alliance / KPA/TopFoto Foto: KPA
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AUDIO: Thomas Manns BBC-Ansprache über den Massenmord an Juden (15 Min)

Thomas Mann zum Holocaust: "Wisst ihr Deutschen das?"

Stand: 28.09.2022 10:25 Uhr

Ab Oktober 1940 greift Literaturnobelpreisträger Thomas Mann in den Zweiten Weltkrieg ein: Aus dem Exil spricht er über die BBC monatlich zu den Deutschen. Am 27. September 1942 prangert er den Massenmord an den Juden an.

von Daniel Kaiser, Marko Rösseler

Es rauscht und piept. Aber die Botschaft ist klar und deutlich. "Die Hölle, Deutsche, kam über euch, als diese Führer über euch kamen. Zur Hölle mit ihnen und all ihren Spießgesellen", heißt es etwa im November 1941. Es ist die Stimme Thomas Manns aus der Freiheit. Emotional und pathetisch streitet er ab Oktober 1940 aus dem Radio heraus mit den Nazis - in insgesamt knapp 60 Ansprachen, die gleich ihrem Titel immer mit derselben Anrede beginnen: "Deutsche Hörer!" Dem bellenden, keifenden Diktator antwortet via der britischen BBC bis zum Kriegsende die Stimme der Vernunft. Für Thomas Mann sind die Nazis "Verderber des Volks" und "die Diktatur des Gesindels". Adolf Hitler nennt er einen "blutigen Komödianten".

"Es gibt keinen Nazi-Sieg"

Doch anfangs läuft es für Hitler gut. Der Blitzkrieg beschert den Deutschen Erfolge im Osten und im Westen. Thomas Mann hat es da schwer. "Werdet ihr mir glauben, wenn ich Euch versichere, dass diese Siege - sofern man sie so nennen kann - genauso so hohl, sinn- und hoffnungslos sind wie die früheren. Es gibt keinen Nazi-Sieg. Alles, was so aussieht, ist blutiger Unsinn, ist im Voraus annulliert", mahnt der Schriftsteller in seiner ersten Rede.

Kritik an Nazis und Wagner: Thomas Mann geht ins Exil

Thomas Mann mit Ehefrau Katia 1938 in den USA. © picture alliance / akg-images
1938 siedeln die Manns in die USA über und leben zunächst in Princeton, später im kalifornischen Pacific Palisades.

Als Mann mit seinen Radioansprachen an die Deutschen beginnt, lebt er bereits zwei Jahre im amerikanischen Exil. Mehrfach hatte der gebürtige Lübecker in seiner Heimat deutlich Stellung gegen das NS-Regime bezogen. Als er 1933 nach einem kritischen Wagner-Vortrag - und dem Zorn der Wagner-Anhänger, zu denen auch Hitler gehört - zu einer Vortragsreise aufbricht, kehrt er von dieser auf Anraten von Freunden nicht mehr zurück. Zum Exil allerdings bekennt er sich nicht sofort, befindet sich in Frankreich, in der Schweiz und in Ungarn zunächst in einem Schwebezustand. Mit der Übersiedlung in die USA 1938 aber ist klar, dass es kein Zurück geben wird. Einem Reporter der "New York Times" sagt er: "Wo ich bin, ist Deutschland, ich trage meine deutsche Kultur in mir."

Mit der deutschen Kultur beziehungsweise den Deutschen geht er nun hart ins Gericht. Insbesondere die Frage, wie eine so hoch kultivierte Nation in die diktatorisch verordnete primitive Barbarei fallen könne, treibt ihn um.

Krieg und Zerstörung vor der Frage der Schuld

Als beim britischen Bombenschlag auf Lübeck am 29. März 1942 - als Vergeltung für die Zerstörung Coventrys - erstmals eine deutsche Innenstadt angegriffen wird, ist auch das Thema in einer von Manns Radioansprachen. Das Haus seiner Großeltern wurde getroffen und schwer beschädigt.

"Das geht mich an. Es ist meine Vaterstadt. [...] Und lieb ist es mir nicht zu denken, dass die Marienkirche, das herrliche Renaissance-Rathaus oder das Haus der Schiffergesellschaft sollten Schaden gelitten haben." Thomas Mann im April 1942 in der BBC-Sendung "Deutsche Hörer!"

Er beklagt die Zerstörung von Gebäuden und Kulturgut - erwähnt die rund 330 Zivilisten, die den Angriff nicht überlebten, aber mit keiner Silbe. Wissend und sehend, von wem der Beginn des Zweiten Weltkriegs ausgegangen war.

"Aber ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss. Es wird mehr Lübecker geben, mehr Hamburger, Kölner, Düsseldorfer, die dagegen auch nichts einzuwenden haben. Und wenn sie das Dröhnen der Royal Air Force über ihren Köpfen hören, ihr guten Erfolg wünschen." Thomas Mann im April 1942 in der BBC-Sendung "Deutsche Hörer!"

Aus der Entfernung hält er den Deutschen den Spiegel vor und fordert sie auf, sich vom Nazi-Regime zu befreien. Denn das deutsche Volk wisse nichts mehr "als Völker- und Massenmord, blödsinnige Vernichtung."

Einmalig, aber deutlich: Thomas Mann über Judenvernichtung

Völker, Massenmord, blödsinnige Vernichtung: Wer würde da heute nicht zuallererst an die Millionen Juden denken, die sterben mussten? Thomas Mann damals seltsamerweise nicht. Judenverfolgung kommt in seinen Reden stets nur als Randnotiz vor. Eine einzige Rede widmet er dem systematischen Massenmord an den europäischen Juden, ausgestrahlt neun Monate nach Berliner Wannsee-Konferenz, auf der NS-Bürokraten die Massenvernichtung beschlossen hatten. Manns Worte, die am 27. September 1942 über den Äther gehen, sind als Tondokument nicht erhalten - doch es soll seine wohl bedeutendste Ansprache werden.

"Deutsche Hörer! Man wüsste gerne, wie ihr im Stillen von der Aufführung derer denkt, die in der Welt für euch handeln. Die Juden-Gräuel in Europa zum Beispiel. Wie euch dabei als Menschen zumute ist, das möchte man euch wohl fragen." Thomas Mann am 27. September 1942 in der BBC-Sendung "Deutsche Hörer!"

So beginnt die Rede. Erstmals spricht Thomas Mann darüber, dass Juden vergast werden. Und stellt den Deutschen bohrende Fragen:

"Nach den Informationen der polnischen Exil-Regierung sind alles in allem bereits 700.000 Juden von der Gestapo ermordet oder zu Tode gequält worden [...] Wisst ihr Deutschen das? Und wie findet ihr es? [...]
Wem ist damit gedient? Wird irgendjemand es besser haben, wenn die Juden vernichtet sind? Welch Idiotie steckt hinter diesem Nazi-Plan? Kein vernunftbegabtes Wesen kann sich in den Gedankengang dieser verrauchten Gehirne versetzen." Thomas Mann am 27. September 1942 in der BBC-Sendung "Deutsche Hörer!"

Der Literaturnobelpreisträger konfrontiert die Deutschen mit Kriegsverbrechen, mit Judenverfolgung, Menschenexperimenten und Euthanasie.

"Das Unaussprechliche, das in Russland, das mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wisst ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins Riesenhafte heranwachsenden Hass, der eines Tages über Euren Köpfen zusammenschlagen muss." Thomas Mann am 27. September 1942 in der BBC-Sendung "Deutsche Hörer!"

Zuhören unter Androhung der Todesstrafe

Die Worte Thomas Manns, ab 1944 amerikanischer Staatsbürger, sind damals gefährliche Botschaften. Und das Programm der BBC gilt den Nazis als Feindsender. Sogenannte Rundfunkverbrechen werden entsprechend streng geahndet und bestraft - sogar Todesstrafen werden verhängt. Und doch werden Manns fünf- bis achtminütige Reden gehört. Das belegten chiffrierte Rückmeldungen aus Deutschland. Auch die Studenten der "Weißen Rose" Hans Scholl und Alexander Schmorell hören zu - Manns Texte beeinflussen die Flugblätter und Handlungen der Widerstandsgruppe. Und mögen manch anderen heimlichen deutschen Hörern als moralische Stütze gelten. "Einst sammelte ein Herder liebevoll die Volkslieder der Nation. Das war Deutschland in seiner Güte und Größe", erinnert Mann etwa an das friedliche Potenzial Deutschlands.

Thomas Manns Stimme über Umwege ins deutsche Radio

Zwei Frauen arbeiten 1942 im Kontrollraum des britischen Senders BBC. © picture alliance / Heritage-Images | The Print Collector
Telefonisch nahm die BBC Thomas Manns aufgezeichnete Reden damals entgegen.

In seinen Reden suggeriert Mann aber auch immer wieder eine Kollektivschuld der Deutschen, was nach dem Krieg für heftige Diskussionen sorgen wird. Die Texte der ersten vier Sendungen werden noch von einem Sprecher in London verlesen. Der Wirkung wegen soll Mann danach jedoch selbst zu hören sein. Schallplatten mit seiner Stimme werden aufwendig mit dem Flugzeug von seinem Wohnort in Kalifornien nach New York geschafft, von dort per Telefon nach London überspielt und dann von der BBC ausgestrahlt. Das Pausen-Signal des britischen Senders klingt wie ein bedrohliches Klopfen an die Tür der Deutschen: Es ist das Morsezeichen für V wie Victory - Sieg.

"Rückkehr zur Menschlichkeit" beendet die Radioansprachen

Die letzte Radioansprache der "Deutsche Hörer!"-Reihe erfolgt am 10. Mai 1945: Der Krieg in Europa ist zu Ende. Bei Thomas Mann mischt sich in die Freude über den Sieg auch Trauer. Wie bitter sei es, wenn der Jubel der Welt der Niederlage, der tiefsten Demütigung des eigenen Landes gelte. Und doch:

"Ich sage, es ist trotz allem eine große Stunde: die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit." Thomas Mann am 10. Mai 1945 in der BBC-Sendung "Deutsche Hörer!"

 

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NDR Info | ZeitZeichen | 27.09.2012 | 09:44 Uhr

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