Stand: 22.07.2005 16:39 Uhr

"10.000 Menschen wollten gleichzeitig nach oben"

Am 30. Januar 1945 legt die "Wilhelm Gustloff" von Gotenhafen in Richtung Kiel ab, um sich an der Evakuierung Ostpreußens zu beteiligen. An Bord des völlig überfüllten Schiffes befinden sich vermutlich mehr als 10.000 Menschen. Etwa 8.800 davon sind Flüchtlinge, überwiegend Frauen und Kinder, die vor der vorrückenden Roten Armee fliehen. Mit an Bord ist auch Heinz Schön. Der damals 18-Jährige ist Zahlmeisteraspirant auf der "Gustloff". Seine Aufgabe ist es, die Passagiere zu registrieren. Doch das ist wegen der großen Anzahl von Menschen nicht möglich.

Flüchtlinge campieren auf den Gängen

Heinz Schön steht auf dem Nachbau der Brücke der 'MS Wilhelm Gustloff'. © picture-alliance/ dpa Foto: Oliver Berg
Heinz Schön hat den Untergang der Wilhelm Gustloff überlebt.

"Um 12.15 Uhr ging es endlich los. Die Schlepper zogen uns in die Fahrrinne, damit das Schiff mit eigener Kraft weiterfahren könne. In dem Augenblick kam ein kleines Schiff aus Pillau und Reval. Die Leute waren die ganze Nacht gefahren. Sie schrien, dass wir sie mitnehmen sollten. Daraufhin wurde das Fallreep noch einmal heruntergelassen und die Leute konnten an Bord. Man schätzte die Zahl auf 500 bis 800. Die wurden auch nicht mehr registriert. Sie kamen einfach an Bord mit dem Nachteil, dass sie die Gänge bevölkerten, die bis dahin noch frei gehalten worden waren, damit die Menschen im Notfall nach oben können. Die Menschen campierten also mit all ihrem Gepäck in den Gängen, sodass es sehr schwierig war, nach oben zu kommen", erinnert sich Heinz Schön.

Drei Torpedos treffen das Schiff

Um 21.16 Uhr treffen drei Torpedos eines sowjetischen U-Boots das Flüchtlingsschiff. Die "Wilhelm Gustloff" beginnt zu sinken. Auf dem Schiff bricht Panik aus, weil alle Passagiere nach oben drängen, darunter auch Heinz Schön: "Man muss sich vorstellen, dass im selben Moment 10.000 Menschen gleichzeitig nach oben wollten. Die Leute strömten auf diese Treppen, und die Leute, die gefallen waren, konnten nicht mehr aufstehen. Die Masse ging einfach über diesen Teppich von toten Leibern und noch lebenden Menschen hinweg. Ich selbst habe versucht, auf die Treppe zu kommen. Ich bin dann in einen Wust, ein Knäuel von Menschen gekommen, habe unter mir schon nichts mehr gespürt. Die Menschen lagen da vielleicht schon 50 bis 75 Zentimeter hoch. Ich bin dann gleichsam hochgetragen worden, denn von Laufen konnte gar nicht mehr die Rede sein. Mir kam das alles wie eine Ewigkeit vor, aber in Wirklichkeit dauerte es nur Minuten".

Durch eine offene Tür gelangt Heinz Schön schließlich - von der Masse der nachdrängenden Menschen getrieben - auf das obere Promenadendeck. Die Lage dort ist bedrohlich : "Das Deck war total vereist, man konnte sich bei der Schlagseite des Schiffs kaum noch bewegen, aufrecht gehen war gar nicht mehr möglich. Man konnte sich nur noch an der Reling entlang hangeln. Das Vorschiff war bereits unter die Wasseroberfläche getaucht, es war vollkommen aufgerissen vom ersten Torpedo. Die Kommandobrücke sah vor sich schon den Abgrund. Vom Vorschiff war nur noch ein Teil zu sehen, der andere Teil war schon nach vorne abgeknickt".

Wer lebte noch, wer war schon tot?

Einen Platz in einem der Rettungsboote findet Heinz Schön nicht, er wird ins Wasser gezogen: "Dort sah ich nur Köpfe, dazwischen Flöße und Boote. Sie wussten ja gar nicht mehr, wer noch alles lebte. In dem einen Boot waren 35 Leute. Bis um 4.30 Uhr, als sie gerettet wurden, waren bereits 30 gestorben. Die Toten haben sie dann immer über Bord geworfen. Ich habe das selber erlebt, wie sie ein Mädchen anfassten, das dann schrie 'Ich lebe noch!' Man konnte gar nicht so genau unterscheiden, wer noch lebte und wer schon tot war". Heinz Schön hatte Glück, er überlebte die Katastrophe, weil ihn jemand auf ein Floß zog.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | ZeitZeichen | 30.01.2010 | 19:20 Uhr

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