Kinderhäuser des NS-Kinderheims in Bad Sachsa inmitten einer Wiese. © Privatsammlung Ralph Boehm

"Sippenhaft": Hitler und seine Rache fürs Attentat vom 20. Juli 1944

Stand: 20.07.2024 00:00 Uhr

Eine Bombe im "Führerhauptquartier" soll Adolf Hitler 1944 töten. Doch das Attentat der Gruppe um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg scheitert. Die Widerstandskämpfer werden hingerichtet, deren Kinder nach Bad Sachsa verschleppt.

Sommer 1944: In Bad Sachsa im Borntal im Harz lässt die Gestapo ein Kinderheim räumen. Alle Kinder und Jugendlichen und die Betreuerinnen werden auf die Straße gesetzt. Sie müssen Kindern weichen, die hier in "Sippenhaft" genommen werden sollen: die Kinder der Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944.

Gräfin Nina von Stauffenberg (1913 - 2006) mit drei ihrer fünf Kinder (aufgenommen wahrscheinlich 1954) © picture alliance / Adolf von Castagne / dpa Foto: Adolf von Castagne
AUDIO: Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg: In Sippenhaft genommen (15 Min)

Bereits wenige Stunden nach dem Attentat hatte Hitler die Widerstandskämpfer als "Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet werden" bezeichnet. "Da ist Verräterblut drin", erklärt Reichsinnenminister Heinrich Himmler und verfügt die "absolute Sippenhaftung" für die Angehörigen. Geplant ist, bis zu 200 Kinder und Jugendliche in Bad Sachsa zu internieren. Ihrer Identität beraubt und mit neuen Namen versehen, sollen sie später an Adoptiv-Familien übergeben werden. Das Ziel: eine komplette Umerziehung der Kinder für "Führer, Volk und Vaterland".

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Die Geschwister Helmtrud und Albrecht von Hagen wurden in ein Nazi-Kinderheim in Bad Sachsa verschleppt. Ihr Vater war am Attentat auf Hitler beteiligt und wurde am 8.8.1944 hingerichtet. © NDR

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Von der Gestapo nach Bad Sachsa verbannt

Schlafsaal des NS-Kinderheims in Bad Sachsa auf einer historischen Aufnahme. © Privatsammlung Ralph Boehm
Geschwister wurden meist voneinander getrennt in unterschiedlichen Häusern untergebracht - hier ein Blick in einen der Schlafsäle.

Zwischen August und September 1944 bringen die Nazis insgesamt 46 Kinder der Widerstandskämpfer nach Bad Sachsa. Sie sind im Alter von einem Monat bis zu 15 Jahren. Zu ihnen zählt auch der damals siebenjährige Friedrich-Wilhelm von Hase. Sein Vater, der Offizier und Widerstandskämpfer Paul von Hase, wird am 8. August 1944 von den Nazis in Berlin erhängt. Fünf Wochen nach der Hinrichtung reißt die Gestapo den Jungen nachts aus seinem Bett und verschleppt ihn in das Kinderheim nach Bad Sachsa.

"Man hat uns unserer Identität beraubt"

Der Junge ist ganz allein. "Meine Geschwister waren sehr viel älter, die waren im Gefängnis. Meine Mutter natürlich auch, und ich war hier auf mich selbst gestellt. Es war eine bedrängende Situation, weil man uns unserer Identität beraubt hatte. Man hatte uns alles genommen, was an Sicherheit für ein Kind von existentieller Bedeutung ist", erinnert sich damals 82-Jährige im Jahr 2019 in der NDR Dokumentation "Hitlers Zorn - Die Kinder von Bad Sachsa".

Als Kleinkind verschleppt

Rainer und Carl Goerdeler, Enkel des Widerstandskämpfers vom 20. Juli 1944, als Kinder auf einer historischen Familienaufnahme. © Privatbesitz
Rainer Goerdeler kommt mit seinem kleinen Bruder Carl erst im Februar 1945 nach Bad Sachsa.

Auch Bertold, der Sohn von Claus Schenk von Stauffenberg, wird nach Bad Sachsa verschleppt. Erst spät, am 7. Februar 1945, kommen auch die Enkel Carl Goerdelers, der nach einem erfolgreichen Umsturz als neuer Reichskanzler vorgesehen war und am 2. Februar 1945 hingerichtet wird, in das Borntal. Der ältere, Rainer, ist damals vier Jahre alt, sein jüngerer Bruder Carl 16 Monate alt. Erst im Juli 1945 darf ihre Mutter Irma, die selbst inhaftiert war, die Brüder in Bad Sachsa abholen. Noch Jahrzehnte später sitzt das Trauma des Verlassenseins tief: "Ich habe ein inneres Frieren durch die Fremdheit, die ich erlitt", beschreibt Carl Goerdeler seine Emotionen 2019 dem NDR.

"Die tiefe Verlassenheit spüre ich noch heute"

Historische Fotografie der von den Nazis verschleppten Kinder Albrecht und Helmtrud von Hagen, deren Vater zu den Attentätern des 20. Juli 1944 zählte.  Foto: Privatbesitz
Jahrzehnte später leidet Helmtrud, die Tochter von Albrecht von Hagen (hier in den 40er-Jahren mit ihrem Bruder Albrecht), noch immer unter den Erlebnissen.

Zwei weitere verschleppte Kinder sind die damals achtjährige Helmtrud und ihr Bruder Albrecht. Die Geschwister bekommen den Nachnamen "Schulz". Ihr Vater Albrecht von Hagen ist einer der Hitler-Attentäter und wird hingerichtet, seine Frau Erica verhaftet. Doch die Kinder wissen davon nichts. Helmtrud fühlt sich von ihren Eltern im Stich gelassen: "Ich habe Briefe voller Erwartung geschrieben. Dass keine Antwort kam, war sehr schmerzlich. Das machte die Verlassenheit jeden Tag tiefer. Diese tiefe Verlassenheit spüre ich noch heute und sie macht mich ein bisschen misstrauisch Menschen gegenüber", erinnert sie sich.

April 1945: Nazis wollen Kinder ins KZ deportieren

Statt der ursprünglich geplanten 200 Kinder werden nur 46 Kinder in Bad Sachsa untergebracht. Ab Mitte Februar 1945 werden nur noch 18 von ihnen festgehalten - die Nazis haben die meisten bereits wieder nach Hause entlassen. Die verbliebenen Kinder entgehen wenige Wochen später nur knapp dem Tod: Sie sollen kurz vor Kriegsende, am 3. April 1945, mit dem Zug von Nordhausen ins KZ Buchenwald gebracht werden. Doch ein Bombenangriff hat in der Nacht zuvor den Bahnhof zerstört - statt ins Konzentrationslager kommen die Kinder zurück nach Bad Sachsa.

Neuer Bürgermeister stellt Kinder unter persönlichen Schutz

Kurz danach besetzen die Amerikaner den Ort und setzen den Sozialdemokraten Willy Müller als kommissarischen Bürgermeister ein. Er stellt die Kinder unter seinen persönlichen Schutz. Der Tagebucheintragung eines der Kinder zufolge sagt er wörtlich: "Und jetzt heißt ihr wieder so wie früher. Ihr braucht euch eurer Namen und Väter nicht zu schämen, denn sie waren Helden."

Heute informiert eine Dauerausstellung in Bad Sachsa über das Schicksal der Heimkinder.

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Reichsmarschall Hermann Göring (helle Uniform) und der Chef der "Kanzlei des Führers", Martin Bormann (l), begutachten die Zerstörung im Raum der Karten-Baracke im Führerhauptquartier Rastenburg, wo Oberst Stauffenberg am 20. Juli 1944 eine Sprengladung zündete, mit der Absicht Hitler zu töten (Archivfoto vom 20.07.1944). Als am 20. Juli 1944 gegen 12.50 Uhr der Sprengsatz in der "Wolfsschanze" detoniert, ging Claus Schenk Graf von Stauffenberg vom Tod des Diktators aus. Für den Attentäter schien das größte Hindernis für den Sturz der Nazis beseitigt. © picture alliance / dpa Foto: Heinrich Hoffmann

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Unsere Geschichte | 04.01.2022 | 01:25 Uhr

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