Republikflucht in die Freiheit
Spätsommer 1989: Hendrik Haker und seine Mutter Gerlinde fahren zu Freunden nach Dresden. Auf dem Rückweg nach Schwerin sprechen sie über Hendriks Einberufung zur NVA. Hendrik hat gerade seine Ausbildung abgeschlossen und soll noch vor dem Studium zur Armee - am 2. November soll er einrücken. "Irgendwie hat er mit dem Thema angefangen und dann vorsichtig gefragt, was ich wohl davon halte, wenn er weggehe. Ich habe sinngemäß geantwortet: 'In der heutigen Situation wäre es mir lieber, du wärest in Hamburg als hier!' Danach haben wir nie wieder über dieses Thema geredet", erinnert sich Gerlinde Haker. Hendrik wertet die Antwort seiner Mutter als stilles Einverständnis: "Das hatte ich als ein Okay verstanden, obwohl sie das nicht so klar ausgesprochen hat damals."
Auf nach Warschau
Hendrik Haker will nicht zur NVA - unter keinen Umständen. In der Tasche hat er ein gültiges Visum für Polen. Über Warschau will er in die Bundesrepublik flüchten. Am 16. Oktober bricht er auf. Seinen Eltern sagt er, er wolle einen Freund besuchen. "Am 16. Oktober hat Hendrik wirklich nur 'Tschüs' gesagt", erzählt seine Mutter, "aber ich habe geahnt: Er will weg, wahrscheinlich will er über Warschau raus." Per Bahn fährt Hendrik Haker nach Ost-Berlin und von dort aus zehn Stunden lang bis nach Warschau. Dort angekommen, will er eigentlich gleich in die bundesdeutsche Botschaft gehen. Aber dann betrachtet er das Gebäude erst einmal nur von außen. "Irgendwie hatte ich mir das alles ganz anders vorgestellt, ich kannte aus dem Fernsehen nur die vollgepferchte Prager Botschaft mit den chaotischen Szenen dort - in Warschau ist alles viel ruhiger gewesen", erinnert er sich.
Aufruhr im "roten Norden"
Schwerin, 18. Oktober 1989: Im Paulskirchenkeller treffen sich die Mitglieder des Koordinationsausschusses vom Neuen Forum. Eng ist es in den Kellerräumen, 30 Frauen und Männer hocken dort zusammen, doch es muss etwas geschehen, erklärt einer der Teilnehmer: "In Leipzig gehen die Montagsdemonstrationen weiter, verstärkt sogar - nur im 'roten Norden', da passiert überhaupt nichts, hier pennen sie alle noch." Die Gruppe beschließt eine Demonstration für den 23. Oktober. Bis dahin sind es nur wenige Tage, die Zeit drängt. Das Neue Forum ist noch nicht legalisiert, die Demonstration wird offiziell nicht genehmigt. Trotzdem laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren.
Am 19. Oktober tagt in Schwerin die Bezirksleitung der SED. Ihr Erster Sekretär ist Heinz Ziegner. Aufgeschreckt durch die Pläne des Neuen Forums plant die Partei - unter Einbeziehung des "Demokratischen Blocks" aus NDPD, LDPD, CDU und DBD - eine Gegenkundgebung, eine "Dialog-Veranstaltung" auf dem Alten Garten, im Zentrum der Stadt, genau am gleichen Ort und zur gleichen Zeit wie die Demonstration des Neuen Forums. Die Parteiführung mobilisiert alle Kräfte, klebt Plakate, wirbt in Betrieben und organisiert zahllose Busse, um SED-Anhänger aus dem gesamten Bezirk nach Schwerin zu fahren.
Von den Vorgängen in Schwerin weiß Hendrik Haker nichts. Am 20. Oktober betritt er die bundesdeutsche Botschaft in Warschau. Probleme gibt es dabei nicht. Er muss lediglich einen Zettel ausfüllen und seine Beweggründe aufschreiben. Er gibt an, dass er nicht zur NVA will. "Andere plausible Gründe hatte ich ja nicht", sagt er. Er glaubt, die kommenden Tage auf einem Stuhl in der Botschaft sitzen zu müssen: wartend, schlafend, so, wie er es im Fernsehen aus Prag gesehen hat. Doch in Polen werden die Flüchtlinge in Hotels oder Ferienwohnungen untergebracht. Es sei beinahe wie im Urlaub gewesen, erinnert sich Hendrik Haker.
Ein Gebet für den Sohn
Schwerin, 23. Oktober: Im Neuen Forum wächst die Angst vor einer Konfrontation. Die Mitglieder wollen gewaltfrei demonstrieren. Doch dann erhalten sie den Hinweis, dass die "Kampfgruppen der Arbeiterklasse", eine paramilitärische Organisation, in Alarmbereitschaft sind. Einige Vertreter des Neuen Forums versuchen, mit dem SED-Chef Heinz Ziegner zu sprechen, doch der lässt sie abweisen. Die Fronten verhärten sich. Ein Dialog ist nicht möglich.
Zahlreiche Anhänger des neuen Forums versammeln sich zunächst in den Gotteshäusern der Stadt. Der Schweriner Dom ist völlig überfüllt. Der mächtige Backsteinbau schwitzt, die hohen Kirchenfenster sind beschlagen, das Kondenswasser läuft herunter. Auch Gerlinde Haker ist unter den Dom-Besuchern. Als kirchliche Mitarbeiterin hat sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Stefan Dann das Gebet verfasst. "Und das war natürlich in den Tagen, an denen ich immer an Hendrik und viele andere habe denken müssen. Das alles hatte ich vor Augen, dass Eltern auf ihre Kinder warteten, nicht wussten, wo sie waren. Mit diesen Gedanken habe ich das Gebet geschrieben." Gerlinde Haker und Stefan Dann stellen sich vor das Mikrofon und sprechen das Gebet. Darin fallen auch die Worte: "Ich sorge mich um meine Kinder. Ich sehe Trauer bei den Eltern, deren Kinder weggingen, deren Kinder im Gefängnis sind. Wir wissen von verhafteten Personen. Immer noch werden Menschen vermisst."
Zusammenprall auf dem Alten Garten
Die Nachricht verbreitet sich im Dom wie ein Lauffeuer: Es gibt eine Gegenveranstaltung der SED. Als die Menschen die Kirchen verlassen und den Alten Garten erreichen, ist dort die SED-Kundgebung bereits in vollem Gange. Die Gruppen prallen aufeinander: die Anhänger des Neuen Forums und die Vertreter der SED mitsamt dem "Demokratischen Block". Pfiffe ertönen, als SED-Chef Heinz Ziegner auf einer Bühne seine Rede hält und aufruft zu "Dialog und Tat gemeinsam für Neuerungen in unserem Land". Die Pfiffe werden lauter, "Gorbi"- und "Freie Wahlen! Freie Wahlen!"-Sprechchöre erklingen. Heinz Ziegner brüllt: "Eines sei jedoch ebenso klar hier gesagt: Für Ratschläge, die darauf zielen, den Sozialismus zu beseitigen, haben wir weder Zeit noch Ohr!"
Dann ziehen 40.000 Menschen durch die Stadt und dem Transparent des Neuen Forums hinterher. Als der Demonstrationszug wieder auf dem Alten Garten eintrifft, stehen die führenden Genossen noch immer vor der SED-Bezirksleitung, erstaunlich wenige Anhänger um sie herum. Die Anhänger des neuen Forums hingegen haken sich gegenseitig unter und gehen kreisförmig auf den Platz zu. Die Parteiführung gibt auf. Unter lauten "Wir sind das Volk"-Rufen der Demonstranten wird die Bühne abgebaut. Die Vertreter der SED-Bezirksleitung und des "Demokratischen Blocks" verschwinden durch eine Blechtür im Gebäude der SED-Bezirksleitung.
Nach Westdeutschland und zurück
Am 1. November muss Hendrik Haker in die Warschauer DDR-Botschaft. Einzeln sollen er und weitere DDR-Flüchtlinge drei Leuten gegenübertreten und sagen, dass sie wirklich ausreisen wollen. Ein einfaches "Ja" genügt. Am Abend bringt ein Flugzeug die DDR-Flüchtlinge nach Düsseldorf. Von dort geht es weiter in ein Aufnahmelager in der Nähe von Münster.
Pünktlich am 2. November klingelt es bei Familie Haker an der Haustür. "Vor der Tür stand ein Herr in Zivil, er hat sich vorgestellt: Er sei von der Nationalen Volksarmee, und er möchte Hendrik Haker sprechen. Ich habe dann zu ihm gesagt: 'Den möchte ich auch gern sprechen, aber er ist nicht hier.'"
Ebenfalls am 2. November verlässt Hendrik Haker das Aufnahmelager. Er erhält ein Zugticket zum Ort seiner Wahl und fährt nach Hamburg, zu seinem Cousin. Von dort ruft er das erste Mal bei seinen Eltern an, mitten in der Nacht. "Worüber wir geredet haben, das weiß ich nicht mehr, nur seine Stimme zu hören, Hendriks Stimme, das war wichtig", erzählt seine Mutter.
Vom 9. November 1989 an fällt die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Bundesbürger allerdings, und zu ihnen zählt nun auch Hendrik Haker, dürfen nicht ohne Visum in die DDR einreisen. Das ist erst ab 24. Dezember 1989, 0.00 Uhr, möglich. "Um 0.01 Uhr hat Hendrik den Grenzübergang in Mustin passiert" , erzählt Gerlinde Haker schmunzelnd. Danach war wieder fast alles beim Alten. Von dem Friedensgebet seiner Mutter am 23. Oktober 1989 im Schweriner Dom - davon hat Hendrik Haker erst sehr viel später erfahren. "Damals ist einfach keine Zeit gewesen, ihm zu erzählen, dass er damit gemeint war", sagt Gerlinde Haker.