Von Zahnprothesen und Korinthen: Randnotizen zur Flut
Für etliche Norddeutsche ist die Sturmflut 1962 tragisch verlaufen. Doch einige haben nicht nur Dramatisches erlebt, sondern auch Kurioses. Ganz persönliche Erinnerungen einiger Hörer und User des NDR.
Ingrid Lüder zum Beispiel war damals 20 Jahre alt und konnte sich mit ihrer Familie rechtzeitig aus einem Behelfsheim in Hamburg-Tiefstack auf einen Bahndamm retten:
"Mein Vater hatte in der Fluchtnacht seine Zahnprothese auf dem Nachttisch vergessen. Am Nachmittag der darauffolgenden Nacht stellte mein Freund ein Floß zusammen und stieg am Haus in das kalte Wasser, um hineinzugelangen. Er tastete sich, das Wasser in Mundhöhe, durch umgekippte Möbel und umherschwimmende Lebensmittel ins Schlafzimmer. Luft angehalten, untergetaucht, nach den Zähnen gesucht und sie gefunden. Mein Vater strahlte, war sehr gerührt und sagte zum Dankeschön: 'Du kannst jetzt Fritz zu mir sagen'."
Versetzungsgefährdung mit untergegangen
Carsten Johow war zur Zeit der Sturmflut Schüler auf Wangerooge: "Ich war Schüler des Insel-Gymnasiums auf Wangerooge. In der Nacht brach der Deich und auch die Schule wurde überschwemmt. Die Unterlagen über meine aussichtslose Versetzung gingen mit unter. Nach dem Ausfall der Trinkwasserversorgung wurden wir Internatsschüler evakuiert. Als wir nach zwei Wochen auf die Insel zurückkehrten, wurden wir alle versetzt und erhielten später eine Gedenkmedaille des Landes Niedersachsen."
Sparbücher trocknen im Akkord
Joachim Schwendy war 1962 Kassierer bei der Haspa an der Stadthausbrücke und musste nach Feierabend in der Zentrale Sparbücher trocknen: "Es kam ein Anruf von der Zentrale am Adolphsplatz. Es wurden Mitarbeiter gesucht, um Sparbücher der Filiale Neuenfelde, die total unter Wasser gestanden hatte, trockenzulegen. Nach Feierabend musste ich mit anderen Kollegen in die Zentrale. Dort wurden in der großen Kassenhalle Wellpappenbahnen ausgerollt. Auf diese Pappen wurden die Sparbücher einzeln gelegt und mit Heißlüftern getrocknet. In einer Ecke der großen Kassenhalle waren Bügelautomaten aufgestellt, wo einige andere Mitarbeiter Wechsel trocken bügelten, die in der Stahlkammer am Adolphsplatz durch die Flut beschädigt worden waren."
Wochenlang bei der Oma ausgeharrt
Jenny Bommer, damals sieben Jahre alt, konnte mit ihren Eltern rechtzeitig das Haus in der Kleingartenkolonie in Hamburg-Veddel verlassen und wurde zur Oma gebracht: "Meine Oma wohnte im Immanuelstieg auf der Veddel im Erdgeschoss. Die Fußleisten an der Eingangstür haben das Wasser so gerade eben noch zurückgehalten. Es hätte keinen Zentimeter weiter steigen dürfen. Nach einer Woche Glucksen unterm Fußboden konnten wir wieder raus. Die Wohnung meiner Oma bekam einen komplett neuen Fußboden. Lange waren dort noch Löcher im Boden, circa so groß wie ein Fünf-Mark-Stück, damit auch alles gut austrocknet. Außerdem liefen im Keller mehrere Wochen die Trockenmaschinen - ein wahnsinniger Krach."
Militär-Jeep landet im "big hole"
Esther Lynen erlebte die Sturmflut mit Mann und Kindern in der Fährstraße in Hamburg-Wilhelmsburg, wo die Flut große Krater hinterließ: "Am Sonntag, als wir noch vor den großen Spüllöchern warnten, kam ein Jeep angepoltert, offensichtlich englisches Militär. Unsere Männer stoppten ihn und erklärten ihm die Lage. Ob der das alles nicht verstand oder nur stur war - er fuhr weiter und mitten in das 'big hole'. Nur noch sein Kopf und das Blaulicht schauten heraus. Bei uns oben bekam er was Trockenes zum Anziehen und heißen Kaffee für die Lebensgeister. Der Jeep wurde mit großem Hallo herausgezogen."
Eisenbahnschwellen werden zum Floß
Gerhard Pahl war 1962 neun Jahre alt. Er lebte mit seiner Familie im Dachgeschoss eines alten Fachwerkbaus in Hamburg-Wilhelmsburg. Familie und Nachbarn retteten sich vor dem Wasser in die benachbarte Mühle: "Ein Nachbar, der Eisenbahner war, hatte einen Stapel Eisenbahnschwellen auf dem Hof gelagert, die er mit Brettern zusammengenagelt hatte. Die konnten nun vortrefflich als Floß genutzt werden. Mittels einer Wäscheleine bauten die Männer aus dem Haus eine Seilfähre, mit der man zum Treppenhausfenster im Dachgeschoss schippern konnte, um noch Habseligkeiten aus den Wohnungen zu holen."
Huhn schippert auf einem Brett über den Hof
Birgit Henken erlebte die Sturmflut als Sechsjährige in Hamburg-Wilhelmsburg, wo viele Menschen Nutztiere hielten: "Mein Vater ging mit der Laterne in den Hühnerstall, um das Kleinvieh zu retten. Alle Hausbewohner waren damals Selbstversorger. Die Hühner wurden gerettet und lebten in unserer Küche, legten die Eier ins Waschbecken. Für unsere Kaninchen, Ställe in zwei Reihen übereinander, kam jede Hilfe zu spät. Ein Huhn schipperte am Tag darauf auf einem Brett über den Hof. Nach der Flut durften wir nicht im Freien spielen, weil überall verendete Tiere lagen. Wir wurden gegen Typhus geimpft."
Zwangspause von der Schule
Thea Kuhlenkamp war damals 13 Jahre alt und wohnte mit ihrer Familie auf der Aueinsel in Hamburg-Finkenwerder: "Wir Kinder von der Aueinsel - und die anderen auch - konnten drei Wochen nicht in die Schule, was für uns 13-Jährige ganz toll war. In den Sommerferien wurden wir eingeladen - von Roten Kreuz oder so - nach Kakensdorf in die Lüneburger Heide in ein Landschulheim. Kann man sich ja vorstellen, was da so los war - mit zwölf Mädels auf einem Zimmer. Es war herrlich, wenn ich heute darüber nachdenke."
Einen 14-Jährigen plagt lange das schlechte Gewissen
Wilfried Schütt wohnte mit seiner Familie auf der Veddel und feierte am 17. Februar seinen 14. Geburtstag: "Zu der Zeit hatte ich große Probleme in der Schule und wünschte mir, dass in Hamburg mal ordentlich etwas los sein sollte, zum Beispiel eine Überschwemmung, damit ich nicht zur Schule muss. Als es hieß 'Das Wasser kommt!', packten meine Eltern Papiere zusammen und schickten mich in den Keller, um Kohlen und Eingemachtes zu holen. Glück für uns: Das Wasser kam nicht in unsere Wohnung. Als immer mehr Nachrichten bekannt wurden, dass es sehr viele Tote gegeben hat, plagte mich mein Gewissen. War ich schuld? Am 17. backte meine Mutter im Gasofen einen Kuchen für meinen Geburtstag. Der Kuchen ist nichts geworden. Noch viele Jahre später hieß ein misslungener Kuchen bei uns 'Flutkatastrophen-Kuchen'".
Korinthen als Hilfsleistung aus Griechenland
Brigitte Gonsior war 1962 Schülerin in Hamburg-Harburg und hat - wie viele andere Kinder auch - Korinthen aus Griechenland als Hilfsleistung erhalten: "Ich erinnere mich an Korinthen, und zwar sehr, sehr viele Kartons. Die haben wir als Schüler mit nach Hause bekommen, die hat man gegessen, einen Kuchen gebacken und dann konnte man keine Korinthen mehr sehen. Die Korinthen bleiben wohl jedem Hamburger Kind von damals in Erinnerung."
Bücher verbrannt für ein bisschen Wärme
Edith Vasicek erlebte die Sturmflut als junge Frau in Hamburg-Wilhelmsburg: "Meine Schwiegereltern, sie wohnten in der Mengestraße im 4. Stock, hatten unseren Sohn zum Schlafen für diese Nacht. ... Mein Schwiegervater hat sämtliche Bücher verbrannt, nur dass die Wohnung warm war und dass man auf der Herdplatte kochen konnte, es gab ja keinen Strom."
Trockenpflaumen zu Mus aufgequollen
Horst Roeschen war Quartiersmann bei der HHLA und musste nach der Flut einen Speicher aufräumen, in dem Trockenpflaumen zu Mus aufgequollen waren: "Dann sahen wir das ganze Elend im Keller. Nichts war mehr so, wie wir es eingelagert hatten, außer die Pflaumen. Die hatten sich in den Kisten auf das Dreifache ausgedehnt und sich unter die Decke gepresst. Die Kisten haben wir mit Brecheisen herausgebrochen und durch die Luken mithilfe von Ketten nach draußen gehievt. Wir haben tagelang mit Gummistiefeln in Pflaumenmus gearbeitet und sahen dementsprechend aus."