Nach Menocil und Contergan: Der lange Weg zum Arzneimittelgesetz
Skandale um Menocil und Contergan haben die Schwächen des deutschen Arzneimittelgesetzes aufgedeckt. Der Epidemiologe Eberhard Greiser kämpfte mit Erfolg für eine Verschärfung - 1978 trat sie in Kraft.
Die Skandale um Contergan und Menocil in den 1950er- und 1960er-Jahren offenbaren eklatante Lücken im deutschen Arzneimittelgesetz. Die unzureichende Gesetzgebung sorgt dafür, dass Nebenwirkungen von Medikamenten nicht verpflichtend erfasst werden. Ärzte sollen diese zwar der Arzneimittel-Kommission melden, allerdings auf freiwilliger Basis. Das führt letztlich dazu, dass Nebenwirkungen nicht systematisch erfasst werden können. Eine neutrale, unabhängige Medikamentenprüfung und Überwachung gibt es nicht. Massive Probleme bleiben somit System-bedingt unentdeckt. Im schlimmsten Fall ignorieren Verantwortliche sogar ganz bewusst Gefahren. Statt scharfer Kontrollen kooperiert die Kommission manchmal sogar mit Herstellern. Bis Ende der 1970er-Jahre ist die Bundesrepublik das letzte Land der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit einem Arzneimittelgesetz auf dem Stand eines Entwicklungslandes.
Schlankheitspille Menocil macht krank statt schlank
Als ein NDR Fernsehteam eine Patientin im Januar 1969 in einer hannoverschen Klinik besucht, geht es ihr sichtbar schlecht. Sie hat schlimme Tage auf der Intensivstation zugebracht. Im Interview mit der Nordschau berichtet die Frau mit matter Stimme über ihre lebensbedrohliche Lage: "Die Fußnägel wurden blau, die Fingernägel blau und die Lippen blau. Meinen Mann hatten sie zweimal von der Arbeit geholt. Die hatten mich schon förmlich aufgegeben. Die hatten gesagt, ich käme nicht mehr durch." Ihre Beschwerden verursacht eine Schlankheitspille. Über Monate nimmt die Frau regelmäßig das Medikament Menocil ein - so wie Zehntausende Deutsche. Die Tablette verspricht purzelnde Pfunde ohne Anstrengung - und der Herstellerfirma ein Millionengeschäft. Damals ist jeder vierte Bundesbürger übergewichtig.
Keine strengen Zulassungsregeln für Arzneimittel
Entwickelt wird der Wirkstoff von Menocil in den Vereinigten Staaten. Auf den Markt kommt das Medikament dort aber nicht. Es erhält von der zuständigen Arzneimittel-Aufsicht keine Zulassung. Die US-Behörde hat Bedenken wegen aufgetretener Nebenwirkungen. In der Bundesrepublik spielt das keine Rolle: Menocil gelangt problemlos in den Verkauf, denn es gibt keine strengen Zulassungsregeln. Hersteller müssen neue Produkte nach dem Arzneimittelgesetz aus dem Jahr 1961 lediglich registrieren lassen. Umfangreiche wissenschaftliche Studien zu Nebenwirkungen sind darin jedoch nicht vorgesehen.
Vorreiter in Sachen Arzneimittelsicherheit in Deutschland ist Eberhard Greiser. Der junge Wissenschaftler arbeitet damals an der Universität Hannover und untersucht das Menocil-Debakel. Das Ergebnis empfindet er damals als Skandal: Mindestens 850 Menschen sind nach der Einnahme des Präparats schwer erkrankt und mindestens 20 daran gestorben. Im NDR Interview fordert Greiser deshalb 1970 Konsequenzen: "Notwendig wäre eine Anhebung des Standards unserer Arzneimittel-Gesetzgebung auf den Standard vergleichbarer westeuropäischer Länder oder denen der USA. Bis dahin kann jeden Tag eine neue Katastrophe wie Contergan oder Menocil geschehen."
Grünenthal löst mit Contergan Arzneimittel-Skandal aus
Als der Menocil-Skandal öffentlich wird, findet gerade ein Prozess gegen einen anderen Pharma-Hersteller statt: Grünenthal. Bis heute ist der Name der Firma mit einem der tragischsten Arzneimittel-Skandale der deutschen Geschichte verbunden - Contergan. Als Schlaf- und Beruhigungsmittel für Schwangere angepriesen, sorgt das Medikament für schwerwiegende Nebenwirkungen. Rund 5.000 Kinder kommen mit erheblichen Behinderungen allein in Deutschland zur Welt. Sie haben nicht ausgebildete oder deformierte Arme und Beine, geschädigte innere Organe. Viele Betroffene sterben frühzeitig. Obwohl es 1958 - kurz nach der Markteinführung von Contergan - Hinweise auf unverantwortbare Nebenwirkungen gibt, bleibt das Medikament drei Jahre verfügbar. Erst im November 1961 wird es vom Markt genommen. Einen Zusammenhang zwischen der Einnahme der Pille und den Behinderungen bei Neugeborenen weist Grünenthal vehement zurück.
Arzneimittelkommission arbeitet nicht unabhängig
Das zeigt sich exemplarisch bei Menocil. Obwohl es bereits erste Todesopfer gibt und das Medikament in der Schweiz und Österreich aus den Apotheken verschwindet, geriert sich die Arzneimittelkommission der Ärzteschaft als Gehilfe der Herstellerfirma Cilag. 1971 berichtet "Der Spiegel", dass beide in ständigem Kontakt stehen - zeitweise mehrmals am Tag. Die Kommission sagt Cilag zu, dass sie auf keinen Fall vor Menocil warnen werde. Auch einen Verbotsantrag beim Bundesgesundheitsamt schließt sie aus. Das Nachrichtenmagazin zitiert in einem Artikel das Versprechen, "dass wir als Kommission auch bemüht sein müssen, jede Art von Panik zu vermeiden."
DDR instrumentalisiert Pharma-Skandale im Westen
Die Pharma-Skandale im Westen instrumentalisiert die DDR-Propaganda dankbar. Eine Fernseh-Dokumentation zum Contergan-Fall polemisiert 1961: "Zehntausende Kinder verkrüppelt, missgestaltet klagen an. Den westdeutschen Staat beunruhigt das in keiner Weise. Das könnte mit der sogenannte freien Marktwirtschaft zusammenhängen. Freie Marktwirtschaft - das ist doch ein wunderschönes Wort, das klingt so nach Erfolg." Auch wenn die Opferzahl im DDR-Fernsehens eindeutig übertrieben ist, eines stimmt: Eine Ursache der Arzneimittel-Skandale ist das Versagen staatlicher Behörden und vor allem des Gesetzgebers.
Eberhard Greiser: Ewiger Kampf gegen Pharma-Skandale
Eberhard Greiser sieht das bis heute so. Fünfzig Jahre nach dem Menocil-Skandal empfindet er das damalige Geschehen als unerträglich: "Da hat eine Firma kaltblütig daran verdient, dass vor allem Frauen zu Tode kamen. Und dafür gibt es dann weder eine Strafe noch Schadenersatz-Zahlungen an die Hinterbliebenen." Für ihn persönlich wird der Skandal Anlass für eine bis heute andauernde Beschäftigung mit dem Wildwuchs in der Pharma-Branche. Bis zu seiner Emeritierung 2003 ist Greiser Professor an der Universität Bremen und Leiter des von ihm mitbegründeten Institut für Epidemiologie und Präventionsforschung.
Mit Aufsehen erregenden, pharmakritischen Studien macht er sich einen Namen. So legt er 1981 zusammen mit Kollegen den "Vergleichenden Arzneimittelindex" vor. Seine Studie zeigt eine weitere eklatante Gesetzeslücke auf: "Jeder Hersteller kann Mittel auf den Markt bringen, ohne nachweisen zu müssen, dass es tatsächlich wirkt. Es sind die Behauptung der Hersteller, und das ist es dann." Das betrifft selbst lebenswichtige Präparate.
Arzneimittelindex gerät ins Visier der Pharma-Lobby
Für den ersten Band des Arzneimittelindex untersuchen der Bremer Professor und sein Team Herz- und Kreislaufmedikamente. Mit schockierender Erkenntnis: "Die Inhaltsstoffe sind vollkommen sinnlos zusammengemischt. Wir haben bei unserer Erhebung von mehreren Hundert Kombinationspräparaten nur vier gefunden, wo wir sagen können: Die sind sinnvoll kombiniert und haben vertretbare Wirkungen und Nebenwirkungen. Der ganze Rest ist Schrott." Teilen der Pharmaindustrie gefällt das Ergebnis der Studie nicht. Deren Lobbyisten nehmen Greiser persönlich ins Visier. Ihm wird mit Verweis auf die Finanzierung der Studie durch das sozialdemokratisch geführte Bundessozialministerium politische Absicht unterstellt. Ernsthafte, fachliche begründete Einwände gegen die Studie gibt es hingegen nicht.
Ratgeber-Buch "Bittere Pillen" wird zum Bestseller
Greiser und sein Team lassen sich nicht beirren. 1983 erscheint der zweite Band des Greiser-Index. Diesmal stehen Psychopharmaka im Fokus. Auch hier zeigen sich bei den meisten Kombi-Präparaten Mängel. Neben der Unwirksamkeit vieler Mittel, besteht bei einigen sogar die Gefahr, dass sie abhängig machen. Patienten erfahren von der Gefahr nichts. Nach Greisers Studie ändert sich das: "Nachdem Band zwei erschienen ist, bekommen auf einmal alle Tranquilizer und Schlafmittel einen kleinen Hinweis auf das Abhängigkeitsrisiko. Das heißt, die Firmen wissen es ganz genau. Sie haben es nur unterlassen, weil das natürlich den Umsatz schädigen kann."
In den darauffolgenden Jahren erscheinen noch drei weitere Bände des Arzneimittel-Index. Wie ihre Vorgänger-Studien richten sie sich ausschließlich an ein Fachpublikum. Ganz anders dagegen das Ratgeberbuch "Bittere Pillen", an dem Eberhard Greiser beratend mitwirkt. Der 860 Seiten dicke Wälzer erscheint 1983 zum ersten Mal. Er steht ein Jahr in den Bestseller-Listen und bewertet 2.300 Medikamente auf ihre Tauglichkeit - vom Hustenmittel bis zur Schlankheitspille. Geschrieben von Journalisten, in leicht verständlicher Sprache, verkaufen sich mehr als eine Million Exemplare. "Bittere Pillen" verändert zudem das Problem-Bewusstsein vieler Patientinnen und Patienten.
Neues Arzneimittelgesetz kommt im Jahr 1978
Nicht zuletzt wegen der beharrlichen Arbeiten von kritischen Wissenschaftlern wie Eberhard Greiser, ändern sich die Pharma-Gesetze schrittweise. 1978 tritt ein grundlegend neu konzipiertes Arzneimittelgesetz in Kraft. Es regelt erstmals die Bedingungen für die Zulassung neuer Präparate und das systematische Erfassen von Nebenwirkungen. Heute müssen alle verschreibungspflichtigen Medikamente beweisen, dass sie sicher sind und wirken - in der Hoffnung, dass Skandale wie Menocil und Contergan sich nicht wiederholen können.