Nach 0:1 gegen die DDR 1974: "Geist von Malente" weckt DFB-Elf
1974 findet die Fußball-WM erstmals in Deutschland statt - beinflusst von Terrorangst. Die Leistung der DFB-Elf ist anfangs wenig berauschend. Nach dem 0:1 gegen die DDR am 22. Juni bringt erst der "Geist von Malente das Team auf Kurs.
Eine Mannschaft mit Stars wie dem am 7. Januar 2024 gestorbenen Franz Beckenbauer, Paul Breitner, Gerd Müller und Günter Netzer, die sich nach einer verheerenden Niederlage zusammenrauft und am Ende im eigenen Land die Fußballweltmeisterschaft 1974 gewinnt - soweit der Mythos vom damaligen Sommermärchen. Doch der Weg zum WM-Titel beginnt wenig glamourös.
"In Malente wird man wahnsinnig"
Schon das Trainingslager im schleswig-holsteinischen Malente ab dem 29. Mai 1974 ist vielen Spielern ein Graus: "In Malente wird man wahnsinnig", zitiert die "Bild"-Zeitung am 20. Juni den Mannschaftskapitän Franz Beckenbauer nach drei Wochen im Trainingscamp. Das Wort vom "Lagerkoller" macht die Runde. Paul Breitner fühlt sich in den einfachen Zimmern und der isolierten Atmosphäre wie in einer Kaserne. "Wir wurden abgeschirmt, keiner hatte Zutritt", erinnert sich auch der damalige Verteidiger Horst-Dieter Höttges von Werder Bremen.
Terrorangst beherrscht die WM
Abschottung und Isolation haben System: Zwei Jahre nach dem Anschlag von München bei den Olympischen Spielen ist die Terrorangst allgegenwärtig. Tag und Nacht bewachen Polizisten die Trainingslager der Mannschaften. Uwe Schlüter, damals Hausmeister im Trainingslager in Malente, beschreibt die Atmosphäre: "Es war hier eine Festung mit Hunden, die Türen waren abgeriegelt mit Matten, wenn einer rausging, war Alarm." Vor den Toren patrouillieren Soldaten mit Maschinengewehren und GSG9-Beamte mit Schäferhunden.
Die Angst scheint berechtigt: Es gehen mehrere Drohungen ein. Die RAF kündigt einen Raketenanschlag auf das Volksparkstadion in Hamburg an, die irische Terrororganisation IRA droht vor dem Turnier mit einem Mordanschlag auf die Spieler des schottischen Teams. Auch gegen die Mannschaft der DDR geht eine Bombendrohung ein.
Franz Beckenbauer berichtet: "Nach drei Wochen Training fiel uns buchstäblich die Decke auf den Kopf, weil es an Abwechslung mangelte. 1966 und 1970 war das anders gewesen, da hatten wir Malente nach 14 Tagen verlassen und waren in ein anderes Land gefahren. Diesmal litten wir unter der Monotonie des Ortes, zumal uns die Sicherheitsbestimmungen kaum Bewegungsfreiheit ließen."
"Wasserschlachten" in der Zwischenrunde
Heitere Spiele sind dieser Atmosphäre kaum möglich, die Voraussetzungen für ein Sommermärchen denkbar schlecht. Traumwetter wie bei der WM 2006 gibt es ebenfalls nicht. Die beiden letzten Zwischenrunden-Partien der DFB-Elf finden im Dauerregen statt. Als "Wasserschlacht von Frankfurt" schreibt das Spiel Deutschlands gegen Polen (1:0) Fußballgeschichte.
Bereits der WM-Auftakt zuvor verläuft alles andere als nach Wunsch: Gegen Chile quält sich die Bundesrepublik in Berlin zu einem 1:0. Der DFB schreibt auf seiner Website rückblickend: "Missgelaunt war auch das Publikum, viele der 85.000 Zuschauer verabschiedeten die Spieler mit Pfiffen." Gegen Australien gewinnt Deutschland zwar mit 3:0, doch auch die Zuschauer im Hamburger Volkspark sind trotzdem mit der Leistung ihrer Mannschaft unzufrieden und pfeifen das Team aus. Beckenbauer revanchiert sich, indem er in Richtung Publikum spuckt. Die Reaktionen der Zuschauer gipfeln in hämischen "Uwe, Uwe"-Rufen, doch Lokalmatador Uwe Seeler ist da schon seit zwei Jahren nicht mehr aktiv.
Jürgen Sparwasser schockt die Bundesrepublik
Noch schlimmer endet aus bundesdeutscher Sicht das letzte Gruppenspiel, in dem ausgerechnet die Teams aus den beiden deutschen Staaten aufeinander treffen. Die DDR hatte sich überraschend für die WM qualifiziert und sich mit der "Aktion Leder" auf die Spiele beim Klassenfeind vorbereitet: Die DDR-Spieler werden scharf überwacht, um Fluchtversuche zu unterbinden, die mitgereisten Fans sind von der Stasi handverlesen. Beim Spiel gegen das DFB-Team kommt es zur Sensation: Jürgen Sparwasser erzielt in der 77. Minute den Siegtreffer für die DDR - und schockiert das Team der favorisierten Westdeutschen zutiefst.
Groß ist die Enttäuschung über die Niederlage des DFB-Teams auch in Hannover: Dort haben sich die Fußballfans bereits seit Wochen darauf gefreut, ihre Mannschaft in der Zwischenrunde im Niedersachsenstadion zu sehen. Doch als Zweitplatzierter der Vorrunde trägt der Gastgeber seine Zwischenrunden-Partien in Düsseldorf und Frankfurt (Main) aus.
Die DDR holt den Gruppensieg, doch der bringt dem Ost-Team kein Glück: Es trifft in der Zwischenrunde auf die überlegenen Teams aus Brasilien, Argentinien und den Niederlanden und scheidet aus.
Die "Nacht von Malente" - ein Mythos wird geboren
Über die westdeutsche Mannschaft und den Bundestrainer ergießt sich der Zorn der Öffentlichkeit: "So nicht, Herr Schön!", titelt die "Bild am Sonntag" und der "Kicker" fordert: "Es muss etwas geschehen." Beim DFB-Team löst die Niederlage gegen die DDR tatsächlich eine Art heilsamen Schock aus: Nach der Rückkehr in das schleswig-holsteinische Trainingslager rauft es sich noch am selben Abend zusammen und findet endlich den gemeinsamen Siegeswillen, der ihm letztendlich den Titel beschert. "An Schlaf dachte niemand und ich putzte jeden runter, der mir vor die Augen kam", beschreibt Beckenbauer später die Stimmung in der Küche von Malente. Von einem "wilden Kaiser" ist die Rede. Jener legendäre Abend, an dem - so beschreiben es später die Spieler - Franz Beckenbauer die Führung übernimmt, geht später als die "Nacht von Malente" in die Geschichte ein.
Ob Tatsache oder Legende, eines fest steht: Nach der unglücklichen Gruppenrunde läuft es für die deutsche Elf deutlich besser. Sie verliert kein Spiel mehr und schlägt im Finale die Niederlande mit 2:1. Am 7. Juli 1974 wird Deutschland zum zweiten Mal Weltmeister.