Stand: 28.05.2017 17:21 Uhr

Mai 1987: Wie einer über den Kreml flog

von Gabriele Denecke
Mathias Rust fliegt mit einer Cessna über den Roten Platz in Moskau © dpa Foto: Lehtikuva Oy
Mit einem Friedensplan im Gepäck macht sich Mathias Rust 1987 auf nach Moskau.

Die Moskauer trauen ihren Augen nicht: Zum Greifen nah kreist ein deutsches Sportflugzeug über dem Roten Platz. Es ist der 28. Mai 1987 und die Welt um eine Sensation reicher. Der 18-jährige Mathias Rust aus Wedel hat es geschafft, ungehindert bis ins Herz des Kommunismus vorzudringen. Eine Stunde nach seiner Landung auf einer Brücke nahe dem Roten Platz fährt der Moskauer Polizeichef vor.

Mathias Rust erinnert sich gut an die Szenen nach der legendären Landung: "Der Polizeichef wollte meinen Ausweis sehen. Er guckte den Reisepass durch und sagte: 'Da ist ja kein Visum drin! Warum haben Sie denn keinen Antrag gestellt?' Ich frage mich, was er wohl gemacht hätte, wenn ich den Antrag gestellt hätte, dass ich mit einem Flugzeug nach Moskau fliegen will? Er hätte ihn abgelehnt. Aber ich wollte den Frieden damit fördern, ein neues Kapitel im Friedensbuch aufschlagen."

Hilfe für die Supermächte

Als die Abrüstungsverhandlungen von Reagan und Gorbatschow 1986 in Reykjavik scheitern, weiß Mathias Rust: Die Supermächte brauchen Hilfe - seine Hilfe. Inspiriert vom intergalaktischen Science-Fiction-Helden Perry Rhodan entwirft der Teenager einen Friedensplan. Den will er unbedingt mit Kremlchef Michail Gorbatschow diskutieren.

Bild vom Flug von Mathias Rust über den Roten Platz in Moskau. © dpa Foto: Lehtikuva Oy
Mit dieser Cessna flog der Hobbypilot über den Roten Platz in Moskau.

Im Mai 1987 startet Rust zur "Mission Roter Platz". Ans Armaturenbrett der Cessna klebt er das Foto seines Cockerspaniels Florian. Offiziell meldet er sich beim "Aero-Club Hamburg" zu einem zweiwöchigen Skandinavientrip ab. Eine Stippvisite in Reykjavik, eine in Helsinki, dann geht es nach Moskau. Kurz vor der sowjetischen Grenze setzt er seinen Motorradhelm auf. So ausgerüstet hofft er, einen Abschuss zu überstehen. Eigentlich ein Himmelfahrtskommando, doch Rust hatte einen Plan: "Ich war dann damals gleich auf ungefähr 700 Meter Flughöhe gestiegen, das war also kein Tiefflug. Ich hatte bewusst diese Flughöhe gewählt, weil ich von vornherein wollte, dass mich das sowjetische Abwehrsystem erfasst."

Auf dem Radar verloren

Die sowjetische Luftabwehr erfasst die Cessna sofort. Düsenjäger steigen auf, warten auf einen Befehl und drehen, als der nicht kommt, wieder ab. Ein Zufall, wie der ehemalige Fernsehjournalist Alexander Galkin heute sagt: "Dass man die Cessna am Anfang registriert und dann wieder verloren hat, lag an einer Kette von unglücklichen Zufällen an diesem Tag. Auf der Flugroute Helsinki-Moskau stürzte zur gleichen Zeit, als Rust da lang flog, eine Transportmaschine ab, eine 'Tupolew 95'. Rettungskräfte flogen zur Unfallstelle, jede Menge Hubschrauber bewegten sich hoch und runter, und zwischen diesen Punkten auf dem Radar hat sich Rust verloren."

Wo ist denn dieser Rote Platz?

Mathias Rust bekommt von alledem nichts mit, er hat eine Mission und sein Ziel vor Augen - zumindest fast: "Es war schon ein angenehmes Gefühl, so dem Ziel nähergekommen zu sein. Und jetzt ging es nur noch darum, den Platz zu finden. Ich hatte es mir eigentlich leichter vorgestellt. Mein Karten- und Bildmaterial hatte ich dabei. Aber dann sah ich diese riesige Stadt und dachte: 'Mein Gott, wo ist denn dieser Rote Platz?' Es hat über eine halbe Stunde gedauert, bis ich den dann tatsächlich gefunden hatte."

Von der Flugzeugaffäre zur Staatsaffäre

Wladimir Kaminer © dpa / picture-alliance
Schriftsteller Wladimir Kaminer erinnert sich an den Vorfall.

Gorbatschow nutzt die Blamage der Luftabwehr für seine Reformpolitik. Jetzt kann er die jahrzehntelange Macht der militärischen Hardliner brechen. Ausgerechnet diese bestraft Gorbatschow dafür, nicht hart reagiert zu haben. Die Flugzeugaffäre wird zur Staatsaffäre. Autor Wladimir Kaminer ist 1987 im zweiten von drei Moskauer Verteidigungsringen stationiert und erinnert sich an die Konsequenzen: "Unser ganzer Ring wurde eigentlich als ein Versagerring abgestempelt. Wir mussten alle weg. Aber dadurch, dass wir eben die Einzigen waren, die über die notwendige Ausbildung, über die notwendigen Kenntnisse der technischen Geräte verfügten, konnte man uns schwer gegen usbekische oder tadschikische Kollegen tauschen. Aber es war viel strenger geworden, nachdem Rust gelandet ist. Und der Chef unserer Kommandozentrale im Hauptbunker hat sich sogar erschossen. Das haben sehr viele als ihr eigenes Versagen betrachtet."

Nicht nur der Verteidigungsminister und seine Stellvertreter müssen gehen, insgesamt verlieren 2.000 ranghohe Offiziere wegen eines Teenagers ihren Job.

"Das würde ich nicht noch einmal bringen"

Rust, der diese "Aufräumaktion" ausgelöst hat, sitzt später im Lefortowo-Gefängnis, Moskaus erste Adresse für "politische Straftäter" und Westspione. Das Oberste Gericht hat ihn zu vier Jahren Haft verurteilt. Aber nach 432 Tagen wird er entlassen. Zum erhofften Treffen mit Gorbatschow kommt es nie. Aus dem Gefängnis geht es direkt in den Flieger, wo die Journalisten auf ihn warten.

Rust ist unsicher und scheu, alles andere als ein großer Held. Heute sieht er seine Aktion in einem anderen Licht. Ob er noch einmal so viel Mut hätte? "Wenn ich gewusst hätte, was sich daraus entwickelt, ich würd's nicht noch mal wagen. Das muss man wirklich machen, ohne die Konsequenzen und die weitere Entwicklung einer Geschichte zu kennen. Aber aus heutiger Sicht, würde ich sagen, das würde ich nicht noch mal bringen", sagte er 2012 in einem Interview.

1987 war er ein wichtiges Rädchen im Getriebe Perestroika. Ohne seinen Flug hätte es vermutlich länger gedauert bis der "Eiserne Vorhang" gefallen wäre. Die legendäre "Cessna 172" wurde übrigens zu einer Attraktion im Technikmuseum Berlin.

Weitere Informationen
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Vater, Mutter und Bruder von Mathias Rust im ARD-Interview mit Gerd Ruge (links) in Moskau. © NDR
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Interview mit Mathias Rusts Eltern

Einen Tag vor Heiligabend haben die Eltern von Mathias Rust ihren Sohn im Moskauer Gefängnis besuchen dürfen. (Tagesschau-Beitrag vom 23.12.1987) 2 Min

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur - Das Journal | 14.05.2012 | 22:45 Uhr

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