Lehrer und Schüler beim Unterricht in der Gehörlosen-Schule Güstrow, Fotograf Abraham Pisarek, um 1953 © SLUB Dresden / Deutsche Fotothek  / Abraham Pisarek Foto: Abraham Pisarek

Leben ohne Muttersprache - Gehörlose in Ost und West

Stand: 04.10.2021 10:18 Uhr

Die deutsche Einheit 1990 einte auch die Forderung in Ost und West nach einer Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache (DGS). Die Muttersprache gehörloser Menschen war lange verkannt und verpönt. 

von Siv Stippekohl

"Sprechen lernen" lautete über eine lange Zeit die Devise der deutsch-deutschen Hörgeschädigten-Pädagogik. Bis heute hat die DGS keinen festen Platz an Förderschulen.   

"Ich bin gehörlos, ich kann nicht hören, ich kann nicht sprechen. Es war sehr schwer alles zu lernen, sehr schwer", gebärdet Wilhelm*. 1959 wird er nahezu ohne Gehör geboren, ebenso wie bereits sein vier Jahre älterer Bruder und später seine kleine Schwester. Die Familie lebt in einem Dorf nahe Ludwigslust. Mit seinen hörenden und hilflosen Eltern kann Wilhelm sich nicht verständigen. Sie beherrschen keine Gebärden. Als er fünf Jahre alt ist, kommt er nach Güstrow in den Kindergarten und versteht die Welt nicht mehr. 1951 ist in Güstrow die Gehörlosenschule neu errichtet worden. Sie ist in den 1970er-Jahren die größte Gehörlosenschule der DDR. Hier lernen und leben die Kinder, denn viele kommen von weit her.

Lippen lesen, Laute nachahmen

Lehrer und Schüler beim Unterricht in der Gehörlosen-Schule Güstrow, Fotograf Abraham Pisarek, um 1953 © SLUB Dresden / Deutsche Fotothek  / Abraham Pisarek Foto: Abraham Pisarek
Training vor dem Spiegel: Die Kinder sollen Laute nachahmen, die sich nicht hören können. Fotograf Abraham Pisarek, um 1953.

Erst langsam kann Wilhelm sich erschließen, was er überhaupt in Güstrow soll. Er hat Heimweh. Dennoch ist er froh, mit anderen gehörlosen Kindern zusammen zu sein, die sind wie er. Untereinander gebärden sie, aber es habe auch "einen Zwang zu sprechen" gegeben. Mit taktil-motorischem Training sollen schwerhörige und gehörlose Kinder das Sprechen erlernen, Laute nachahmen, die sie nicht hören können, und von den Lippen ablesen. Geübt wird vor dem Spiegel, mit Hilfe von angepustetem Papier, das sich durch den Atem bewegt, mit Klopfen, Ertasten, Gurgeln. 1965 kommt Wilhelm in die erste Klasse. Sein erster Lehrer schimpft viel und schlägt die Kinder. Einige Lehrer nutzen Gebärden zur Verdeutlichung des Gesprochenen, andere verbieten sie im Unterricht.

Keine Gebärden - keine Sprache

Wilhelm gelingt es, Laute auszusprechen, er versteht aber nur wenig. Er lernt kaum richtig lesen und schreiben. Das bleibt so bis zum Abschluss der 10. Klasse. Im der Gehörlosenschule angeschlossenen Berufsschulteil lernt er Maschinenschlosser. Wilhelm kann heute beides nicht richtig: Seine hörenden Arbeitskollegen verstehen ihn so gut wie gar nicht, die komplexe Muttersprache der Gehörlosen mit mittlerweile mehr als 250.000 Gebärden hat er nie richtig erlernt.

Erschrecken über Schicksale der Gehörlosen in der DDR

Lehrer und Schüler beim Unterricht in der Gehörlosen-Schule Güstrow, Fotograf Abraham Pisarek, um 1953 © SLUB Dresden / Deutsche Fotothek  / Abraham Pisarek Foto: Abraham Pisarek
Lehrer und Schüler beim Unterricht in der Gehörlosen-Schule Güstrow, Fotograf Abraham Pisarek, um 1953.

Mit den Folgen der DDR-Gehörlosenpädagogik sieht sich die Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung "Anerkennung und Hilfe" in Mecklenburg-Vorpommern konfrontiert. Von 2017 bis Mitte 2021 konnten sich Menschen, die als Kinder und Jugendliche in Behinderteneinrichtungen, Psychiatrien und sonderpädagogischen Einrichtungen Leid und Unrecht erlitten haben, bei der Stiftung melden, sich beraten lassen und eine einmalige finanzielle Hilfe beantragen. Wilhelm war einer von rund 300 gehörlosen Menschen, die sich gemeldet haben. Weitere 200 höreingeschränkte Menschen ließen sich beraten. Bundesweit meldeten sich in allen Anlaufstellen der Stiftung auffallend viele Hörgeschädigte.

Erschreckt war Anne Drescher, die Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Mecklenburg-Vorpommern, bei der die Anlaufstelle der Stiftung angesiedelt ist, über die Schilderungen und Schicksale der Betroffenen. "Viele sind völlig ohne Kenntnisse, ohne Wissen in anderen Bereichen wie Biologie, Chemie, Mathematik aufgewachsen", sagt sie. Doch nicht nur die Bildungsnachteile wiegen schwer. Auch die frühe Herausnahme aus den Familien im Kleinkindalter sowie strukturelle Gewalterfahrungen in den Institutionen, von denen viele Betroffene berichten, haben erhebliche psychisch-emotionale Folgen.

Gehörlosenpädagogik in gesamtdeutscher Tradition

Lehrer und Schüler beim Unterricht in der Gehörlosen-Schule Güstrow, Fotograf Abraham Pisarek, um 1953 © SLUB Dresden / Deutsche Fotothek  / Abraham Pisarek Foto: Abraham Pisarek
Lautsprache als Maß der Dinge - gehörlose Kinder sollten sprechen lernen, ohne Gebärden, wie hier in Güstrow. Fotograf Abraham Pisarek, um 1953.

Die DDR-Gehörlosenpädagogik stand ebenso wie die in der Bundesrepublik in der deutschen Tradition des 18. Jahrhunderts. 1978 gab es in der DDR zur Feier von 200 Jahren deutscher Gehörlosenpädagogik Sonderbriefmarken. 1778 hatte Samuel Heinicke in Leipzig die erste öffentliche Taubstummenschule gegründet. In ihr lernten taube Kinder zu sprechen. Heinickes Überzeugung: Nur eine gesprochene Sprache ist wirklich eine Sprache. Anders als in Frankreich entwickelte sich in Deutschland eine vor allem lautsprachlich orientierte, orale Methode - richtungsweisend als sogenannte "deutsche Methode". 1880 versammelten sich in Mailand rund 150 vor allem hörende Pädagogen aus Europa und Amerika zu einem Kongress, der in einem Beschluss der lautsprachlichen Erziehung den Vorzug gab. Der Methodenstreit schien entschieden. Fortan hatten Gebärden, mit denen Gehörlose seit jeher miteinander kommunizierten, es an Gehörlosenschulen schwer. Im Osten ebenso wie im Westen nach dem Nationalsozialismus, als Gehörlose ermordet und zwangssterilisiert worden waren.

Sind Gebärden Sprache?

Vor 70 Jahren rief der Weltverband der Gehörlosen 1951 den Internationalen Tag der Gebärdensprache ins Leben. Doch erst in den 1980er-Jahren begann die sprachwissenschaftliche Erforschung der lange als "Geplauder" verpönten Gebärden in Hamburg. An der 1983 eingerichteten "Forschungsstelle für Gebärdensprache" der Universität. Selbst viele Gehörlose hätten nicht geglaubt, dass es die deutsche Gebärdensprache gibt, erzählte der Linguist Siegmund Prillwitz später in einem Interview und erinnerte an hitzige, emotionale Debatten. "Die Gehörlosenpädagogen waren ungeheuer sauer" und ungläubig, ob "primitive, naive" Gebärden als vollwertige Sprache anerkannt werden könnten. Die Hamburger Pioniere erarbeiteten eine Grammatik und begannen mit der Arbeit am Lexikon der Deutschen Gebärdensprache (DGS). Und kamen ähnlich wie zuvor in den 1960er-Jahren das Team des amerikanischen Sprachwissenschaftlers William C. Stokoe in Washington bei der Analyse der American Sign language zu dem Ergebnis: Gebärden sind Sprache! Vollwertig, visuell und vielseitig.

"Das geht gar nicht!"

1984 beginnt die Pädagogin Sylvia Wolff, als Erzieherin und Lehrerin zu arbeiten. Als sie eine Stelle an einer Ostberliner Gehörlosenschule antritt, sorgt sie sich, weil sie keine Gebärdensprache kann. Das brauche sie gar nicht, wird ihr gesagt. "Wie soll das denn gehen?", habe sie sich damals gefragt. "Und es stellte sich heraus: Das geht auch gar nicht!" Ihr selbst schlägt eine Kollegin auf die Finger, als sie mit Erstklässlern auf dem Schulflur gebärdet. Teils sei auch Eltern geraten worden, zu Hause nicht mit ihren Kindern in Gebärden zu kommunizieren, um die lautsprachliche Entwicklung nicht zu gefährden. Sylvia Wolff weiß von Gehörlosen, die später mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hatten: durch Kommunikationsprobleme und Isolation im Berufsalltag, ausgelöst durch die Unterdrückung der Gebärden-Muttersprache in ihrer Kindheit. Heute lehrt Wolff an der Humboldt-Universität am Institut für Rehabilitationswissenschaften in der Abteilung Gebärdensprach- und Audiopädagogik. Und erlebt Studierende, die ganz selbstverständlich Deutsche Gebärdensprache lernen, um sie künftig in den Schulen zu unterrichten.

DGS auf langem Weg der Anerkennung

Trotz aller Forderungen der Gehörlosenverbände dauerte es noch bis 2002, bis die Deutsche Gebärdensprache als eigene Sprache anerkannt wurde. Und auch zur Erfüllung der UN-Behindertenrechtskonvention, seit 2009 in Deutschland geltendes Recht, ist es noch ein weiter Weg. Die Historikerin Anja Werner hat zur Geschichte des Umgangs mit Gehörlosen im geteilten Deutschland geforscht. Im Kern ging es seit rund 250 Jahren um den Konflikt, ob Gehörlose sich in die Welt der hörenden Mehrheit integrieren sollen oder mit Hilfe ihrer eigenen Sprache ihr intellektuelles Potential entfalten können. "Es gab 2019 vom Weltverband der Gehörlosen ein Positionspapier, das besagt: Gehörlosigkeit ist nicht bloß eine Behinderung, sondern auch eine eigene Kultur und bringt eine sprachliche Minderheit hervor. Dieser Gedanke ist in Deutschland noch gar nicht angekommen."

"Ohne Gebärdensprache wäre ich verloren"

Yvonne Muche ist die Tochter von Wilhelm. Auch sie ist nahezu gehörlos und hat an Mecklenburg-Vorpommerns Landesförderzentrum mit dem Schwerpunkt Hören in Güstrow ihren Schulabschluss gemacht. Erst später hat sie in ihrer Ausbildung bemerkt, dass ihre Gebärdensprachkompetenz besser sein könnte. Sie kann sprechen, sagt aber ganz klar: "Ohne Gebärdensprache wäre ich verloren!". Nach wie vor findet gebärdensprachlicher oder gar bilingualer Unterricht auch an Förderschulen kaum statt. Es gibt zu wenige muttersprachliche, gut ausgebildete Lehrer, Rahmenpläne für ein Unterrichtsfach "Deutsche Gebärdensprache" müssen noch erarbeitet werden.

"Nicht gehört" erzählt Geschichte der Gehörlosen in der DDR

Als Yvonne Muche in dem Buch "Nicht gehört: Gehörlose Kinder in der DDR", das im Frühjahr von Anne Drescher herausgegeben wurde, die Geschichte ihres Vaters unter dem Pseudonym Wilhelm gelesen hat, habe sie geweint. Erst da habe sie verstanden, warum ihr Vater, warum viele Gehörlose so geworden sind. Für die Zukunft wünscht sie sich: bilinguale Bildung. Auch für ihre beiden eigenen, ebenfalls gehörlos geborenen Kinder. Damit sie anders aufwachsen und lernen können.

Weitere externe Angebote in Deutscher Gebärdensprache

* Name auf eigenen Wunsch von der Redaktion geändert

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Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin | 03.10.2021 | 19:30 Uhr

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