Ingeborg Rapoport: Kinderärztin und weltälteste Doktorandin
Eine Ärztin ringt um das Leben eines Babys. Fans der Serie "Charité" kennen solche Szenen: Dr. Ingeborg Rapoport rettet hier Kinderleben. Es gab sie wirklich. Und mit 102 Jahren wurde sie die älteste Doktorandin der Welt.
Hilfesuchende Familien konnten der von Nina Kunzendorf in der der ARD-Serie "Charité" verkörperten Kinderärztin Ingeborg Rapoport ab 1958 tatsächlich im Berliner Krankenhaus Charité begegnen - ein großes Glück für die Betroffenen, denn Rapoport galt als Koryphäe auf ihrem Gebiet. Doch sie war noch viel mehr: Begründerin der Neugeborenenmedizin in der DDR, vierfache Mutter, überzeugte Sozialistin, Professorin und: mit 102 Jahren die älteste Doktorandin der Welt.
In der DDR will Rapoport die Säuglingssterblichkeit senken
Als Ingeborg Syllm-Rapoport 1952 in die DDR kommt, ist die Säuglingssterblichkeit trotz verbesserter Hygienebedingungen immer noch hoch. Von 1.000 Kindern sterben mehr als 30 in ihrem ersten Lebensjahr. (Zum Vergleich: Heute sind es drei von 1.000). Eine schreckliche Erfahrung für die Eltern und die Ärztinnen und Ärzte, die oft nur hilflos zusehen können. Gerade bei Neugeborenen weiß man einfach zu wenig über die Ursachen.
Untersuchung von Neugeborenen in den 50ern noch unüblich
Rapoport, selbst vierfache Mutter, will das ändern - unbedingt. Die Neonatologie, die Neugeborenenmedizin, ist ihr Herzensthema. Doch als sie an der Charité beginnt, sind Geburtsmedizin und Kinderklinik nicht nur inhaltlich, sondern auch räumlich getrennt. Heute kaum vorstellbar: In den 1950er-Jahren ist es nicht üblich, dass ein Kinderarzt ein Neugeborenes nach der Entbindung untersucht. So werden Gefahren für das Baby oft nicht erkannt.
Welche dramatischen Folgen diese Trennung von Gynäkologie und Neonatologie haben kann, führt die Fernsehserie "Charité" anschaulich vor Augen. Über eine halbe Stunde muss Rapoport etwa mit dem Fahrrad durch Berlin strampeln, um in der Gynäkologie nach den Ursachen der gefährlichen Gelbsucht eines ihrer kleinen Patienten zu fahnden. Das Telefon dort ist wegen Personalmangels nicht besetzt.
Ein anderes Mal fährt sie zwar mit dem Krankenwagen, kann das Kind in ihren Armen aber dennoch nicht vor Hirnschäden infolge einer Neugeborenensepsis bewahren. Dabei ist diese leicht zu behandeln, wenn man sie rechtzeitig erkennt. Ohne Zweifel: Diese Szenen wurden für die Serie dramaturgisch spannend aufbereitet. Doch sie sind nicht ohne Grundlage.
Erschwerte Bedingungen: Mauerbau und keine Kooperation
Auch in der Realität ringen Rapoport und ihre Kolleginnen und Kollegen in der jungen DDR mit schwierigen Bedingungen. Als Rapoport 1959 die Leitung der Säuglings- und Frühgeborenenstation der Berliner Charité in Ostberlin übernimmt, fehlt es an Ausrüstung, medizinisches Personal flüchtet in den Westen, Mauerbau und politische Instabilität erschweren die Arbeit.
Rapoport liegt außerdem im Streit mit dem renommierten Leiter der Gynäkologie, Prof. Dr. Helmut Kraatz. Er teilt ihre Vorstellungen interdisziplinärer Arbeit zunächst nicht und lehnt eine Vernetzung ihrer und seiner Profession ab. Rapoport dagegen strebt eine enge Zusammenarbeit zwischen allen wichtigen Disziplinen an, um Mutter und Kind bestmöglich zu versorgen - ohne lange Wege, sowohl räumlich als auch medizinisch. Das ist ein völlig neuer Ansatz, den sie beharrlich verfolgt.
Rapoport revolutioniert die Neugeborenenmedizin in der DDR
Rapoports Ziel: herauszufinden, was Schwangerschaft und frühkindliche Entwicklung beeinträchtigt und so die Säuglingssterblichkeit zu senken. 1969 erhält die 53-Jährige den ersten europäischen Lehrstuhl für Neonatologie. Mit medizinischer Weitsicht initiiert sie im gleichen Jahr ein interdisziplinäres Forschungsprojekt. Rapoport holt alle wichtigen Fachgebiete zusammen - von der Gynäkologie über die Kinderheilkunde bis zu Pathologie und Humangenetik.
Mit Erfolg: Was die ARD-"Charité" nicht mehr zeigt, wird in der Berliner Charité Wirklichkeit. 1970 wird die Frauenklinik umstrukturiert, Geburtsstation und Neugeborenenklinik gehören nun zusammen - in Form eines Perinatalzentrums, wie es heute zum Standard in der Neu- und Frühgeborenenmedizin gehört. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen revolutioniert Rapoport Forschung und medizinische Praxis und rettet so unzähligen Kindern das Leben. Zeitweise ist die Säuglingssterblichkeit in der DDR dank ihres beharrlichen Engagements niedriger als in der BRD.
Drei Leben zwischen Verfolgung und Erfolg
Rapoports Werdegang klingt beeindruckend, eine scheinbar reibungslose Erfolgsgeschichte. Doch das täuscht. Ihrem Leben als Prof. Dr. Rapoport in der DDR gehen, wie sie selbst rückblickend sagt, zwei Leben voraus. Sie sind gezeichnet von Verfolgung, Angst und Flucht.
Erstes Leben: Von Kamerun nach Hamburg
Ihr "erstes Leben" beginnt in Kamerun. Hier wird Ingeborg Rapoport, damals noch Syllm, am 2. September 1912 geboren. Mit ihrem Bruder und ihren Eltern, einem Kaufmann und einer Konzertpianistin, zieht sie nach Hamburg. Ihre Kindheit und Jugend verbringt Rapoport in der Hansestadt.
Die Goldenen Zwanziger, aber auch wachsender Antisemitismus prägen das Leben der Familie in Deutschland. Dennoch konvertiert Mutter Maria Feibes 1933 zum Judentum, der Religion ihrer Eltern. Sie möchte ein Zeichen gegen die Rassenideologie der Nationalsozialisten setzen. Ein mutiger, aber gefährlicher Schritt. 1935 verliert sie ihre Stelle als Musiklehrerin an einer renommierten Hamburger Klavierakademie.
Auch Rapoports Leben wird mehr und mehr durch die Machtergreifung der Nazis beeinträchtigt. Die Abschlussprüfung ihres Medizinstudiums muss sie 1937 auf gelb gerändertem Papier schreiben, das sie als Jüdin stigmatisiert. Da ihre Großeltern jüdischen Glaubens sind, gilt sie für die Nationalsozialisten als "Mischling ersten Grades".
Die Nazis verwehren Rapoport den Doktortitel
Obwohl sie ahnt, dass ihr die Zulassung verweigert wird, schreibt sie am Hamburger Universitäts Klinikum in Eppendorf (UKE) ihre Dissertation, Thema: "Lähmungserscheinungen infolge von Diphterie". Die "Arme-Leute-Seuche" tobte in den 1920er-Jahren in Deutschland und ließ insbesondere Kinder oft schwer gezeichnet zurück.
Das Thema ist wichtig und dennoch: 1938 wird ihr die Zulassung zur mündlichen Prüfung, die die Promotion abschließen würde, von der nationalsozialistischen Hochschulbehörde verwehrt. Die Situation für jüdische Menschen in Hamburg und ganz Deutschland spitzt sich zu. Aus Schikane wird Lebensgefahr. Kurz vor der Pogromnacht 1938 flüchtet Rapoport mit ihrer Mutter in die USA.
Zweites Leben: Als Kinderärztin und Kommunistin in den USA
Mit der Flucht beginnt Rapoports "zweites Leben" in den Vereinigten Staaten. Zu ihrem Schrecken hat die nicht abgeschlossene Promotion nun ungeahnte Folgen. Ihr deutsches Staatsexamen wird nicht anerkannt, sie kann nicht als Ärztin arbeiten. Rapoport muss erneut studieren, um den Medical Doctor (MD) zu erlangen. Dies ist nur dank eines Stipendiums möglich, denn die junge Frau ist nun völlig mittellos. Der MD, den sie 1940 endlich erhält, entspricht nicht der hohen Qualifikation der Promotion, die sie in Deutschland ablegen wollte, doch zumindest kann sie nun als Ärztin arbeiten.
Rapoport spezialisiert sich auf Kinderheilkunde und kann beruflich Fuß fassen - eine Seltenheit. Nur wenige jüdische Mediziner, die in die USA fliehen, können in ihrem Beruf arbeiten. Zum beruflichen Erfolg kommt privates Glück: 1944 lernt sie den österreichischen Biochemiker Samuel Mitja Rapoport kennen, das Paar heiratet 1946. 1947 wird ihr erster Sohn Tom geboren, 1948 und 1949 folgen Michael und Susan. Neben Job und Familie engagiert sich das Paar für die Kommunistische Partei der USA.
Verfolgung durch den McCarthy-Untersuchungsausschuss
Doch zu Beginn des Kalten Krieges wächst der Antikommunismus in den Vereinigten Staaten. Das Ehepaar Rapoport wird erneut zu Verfolgten. 1950 wird die Lage dramatisch. Ingeborg und Mitja sind gerade in der Schweiz bei einem Kongress, als sie von ihrer Vorladung vor das McCarthy-Komitee erfahren. Die Situation ist bedrohlich. Mitja kann nicht zurück in die USA, doch beide Söhne und die Tochter sind noch dort. So reist seine Frau hochschwanger allein in die USA, um ihre Kinder zu holen und Hals über Kopf nach Europa zu fliehen. Kurz darauf wird ihr viertes Kind geboren, das Mädchen kommt mit einer Epilepsie und fast blind zur Welt.
Zwölf Jahre nach ihrer Flucht in die USA steht Rapoport erneut vor der Herausforderung eines erzwungenen Neuanfangs. Zurück nach Europa? Ja. Aber zurück nach Deutschland? Die inzwischen 38-Jährige hadert. Dennoch entschließt sich die Familie, einen Neuanfang in der jungen DDR zu wagen.
Drittes Leben: Privates und berufliches Glück in der DDR
Damit beginnt Rapoports "drittes Leben" - als Forscherin, als Professorin, als Revolutionärin der Neugeborenenmedizin in Ostdeutschland. Und als überzeugte Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik. Die Rapoports hoffen, eine neue Gesellschaft nach sozialistischen Werten mitgestalten zu können. Nur aus diesem Grund kann die Kinderärztin sich entschließen, nach Deutschland zurückzukehren.
"Ich mag den Gedanken des Miteinander, des Füreinander. Dass wir alle gemeinsam einen neuen Staat aufbauen, der für alle da ist", lässt Nina Kunzendorf ihre Ingeborg Rapoport in "Charité" sagen. "Ich wollte eigentlich nie mehr nach Deutschland zurück. Aber mein Mann hat mich überzeugt, dass die DDR ein anderer Staat ist. Nicht mehr das Land das sechs Millionen Juden umgebracht hat."
Die Rapoports bereuen ihre Entscheidung nicht. Als privilegierte DDR-Bürger bekommen sie die schlechten Seiten des Arbeiter- und Bauernstaates kaum zu spüren. Beide bleiben auch nach dem Mauerfall überzeugte Sozialisten.
Ingeborg Rapoport bekommt ihren Doktortitel mit 102 Jahren
Mit 102 Jahren setzt Ingeborg Rapoport im Juni 2015 einen fulminanten Schlusspunkt hinter eine unvollendete Station ihres "ersten Lebens". 77 Jahre, nachdem die Nazis ihr die Verteidigung ihrer Doktorarbeit verweigerten, schließt sie ihre Promotion mit dem Rigorosum ab und erhält in Hamburg ihre Doktorurkunde. Damit ist sie die älteste Promovendin der Welt. Die Promotion an sich ist ihr dabei nicht wichtig, aber der symbolische Charakter der Wiedergutmachung bedeutet ihr viel. "Es ging hier ums Prinzip, nicht um mich," erklärt sie 2015 im Interview mit dem Tagesspiegel. Sie habe es für die Opfer des Nationalsozialismus getan.
Am 23. März 2017 stirbt Ingeborg Rapoport im Alter von 104 Jahren in ihrer Heimat Berlin. Die 2020 gegründete Rapoport-Gesellschaft hält die Erinnerung an die Leistungen des Ehepaares am Leben. Ingeborg Rapoports 1997 erschienene Memoiren und die preisgekrönte MDR-Dokumentation "Die Rapoports - Unsere drei Leben" von 2004 machen ihre Jahrhundertbiografie erlebbar: für alle, die mehr über die Frau hinter der Figur aus der ARD-"Charité" erfahren wollen.