Land unter: Die Jahrhundertflut an der Elbe
Starkregen lässt die Elbe und ihre Nebenflüsse im Sommer 2002 anschwellen. Im Osten Deutschlands gehören Tote und verheerende Schäden zur traurigen Bilanz. Am 21. August erreicht die Flutwelle Norddeutschland.
August 2002: In vielen Teilen Deutschlands herrscht schönes Sommerwetter, aber in einigen Regionen im Osten und Südosten braut sich etwas zusammen. Statt Sonnenschein kommt Regen vom Himmel, viel Regen. Das neue Jahrhundert hat gerade erst begonnen, da sollen diese unkontrollierbaren Wassermassen schon als Jahrhundertflut in die Geschichte eingehen - mit einem Gesamtschaden von zirka 11,6 Milliarden Euro. In Zinnwald-Georgenfeld im östlichen Erzgebirge etwa fallen am 12. August 312 Liter Niederschlag pro Quadratmeter - so viel wie sonst in drei Monaten.
Sachsen mit 21 Toten am schlimmsten betroffen
Auch in anderen Teilen Sachsens, in Bayern und in Tschechien regnet es heftig. Die Folge: Staustufen laufen über, die Pegel der Elbe und ihrer Nebenflüsse steigen sprunghaft an. Kleine Bäche werden zu reißenden Strömen. Zahlreiche Orte und Landstriche werden überflutet. Am schlimmsten trifft es Sachsen. Viele Orte sind von der Außenwelt abgeschnitten, Menschen müssen mit dem Hubschrauber aus den Wassermassen gerettet werden.
Teile Dresdens müssen evakuiert werden
In Dresden wälzt sich eine Flutwelle durch den Hauptbahnhof, die Universitätsklinik muss evakuiert werden, viele Gebäude - darunter die Semperoper, die Gemäldegalerie im Zwinger und der Landtag - stehen unter Wasser. Auch Pirna und Meißen werden überflutet. 21 Menschen sterben allein in Sachsen bei der Katastrophe. Insgesamt werden dem Hochwasser in Mitteleuropa mindestens 45 Menschen zum Opfer fallen.
Städte an der Elbe bereiten sich auf die Flutwelle vor
Von Sachsen rollt die Flutwelle über Sachsen-Anhalt und Brandenburg Richtung Norden. Behörden und Anwohner dort sind alarmiert und bereiten sich auf das Schlimmste vor. In Amt Neuhaus erhöhen Helfer die alten DDR-Deiche, die noch nicht vollständig erneuert sind, mit Sandsäcken. In der Elbtalaue werden Campingplätze geräumt und das Vieh von den Weiden getrieben. In Hitzacker sichern die 500 Bewohner der ungesicherten Altstadt ihre Häuser mit Holzplatten, mauern Türen und Fenster zu und bringen Wertgegenstände in höherliegende Etagen. Genauso machen es die Bewohner der Elbstraße im schleswig-holsteinischen Lauenburg. Bürgermeister Harald Heuer hat ein mulmiges Gefühl und befürchtet eine "Katastrophe".
Landkreise lösen Katastrophenalarm aus
In allen norddeutschen Bundesländern sind Feuerwehr, Bundeswehr und Hilfsorganisationen in Alarmbereitschaft. Die Behörden bereiten Evakuierungspläne vor und verteilen Hunderttausende von Sandsäcken. Gebannt schauen alle auf die steigenden Pegel, in Hitzacker steigt das Wasser etwa zehn Zentimeter pro Stunde. Am 18. August lösen die betroffenen Landkreise Herzogtum Lauenburg (Schleswig-Holstein), Ludwigslust (Mecklenburg-Vorpommern) sowie Lüneburg und Lüchow-Dannenberg (Niedersachen) Katastrophenalarm aus. Tausende Helfer finden sich in den gefährdeten Gebieten ein. Unter großem Zeitdruck sollen Sandsäcke und Folien vor allem die Deiche stärken - etwa in Amt Neuhaus, wo Helfer eilig den viel zu niedrigen Deich provisorisch erhöhen.
21. August 2002: Die Flutwelle erreicht Norddeutschland
Am 21. August erreicht die Flutwelle zunächst Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. In Gartow-Laasche bricht ein Deich und überflutet die Ortschaft. Zahlreiche weitere Gemeinden werden überschwemmt. Das Wasser steigt hier insgesamt aber nicht so hoch wie befürchtet. Dennoch werden die Elbdörfer in Mecklenburg-Vorpommern zwischen Dömitz und Boizenburg, einige umliegende Dörfer und Amt Neuhaus evakuiert, weil die Behörden mit Deichbrüchen rechnen. Wenig später erreicht das Wasser auch Schleswig-Holstein. Auch die Bewohner der Lauenburger Unterstadt werden aufgefordert, ihre Häuser verlassen.
In Hamburg müssen lediglich in den Vier- und Marschlanden einige Bewohner ihre Sommerhäuser räumen. Die Stadt selbst ist nicht vom Hochwasser bedroht, weil die Elbe hinter dem Stauwehr in Geesthacht breiter und tiefer wird und die ausgedehnten Wasserflächen des Hafens dem Wasser genügend Raum bieten, um sich zu verteilen.
Ungeschützte Altstadt von Hizacker steht unter Wasser
Dagegen steht die ungeschützte Altstadt von Hitzacker, deren Altstadtinsel zusätzlich von der Jeetzel umflossen wird, am 22. August unter Wasser: Kein Deich schützt die historische Altstadt, die an einigen Orten bis zu 1,50 Meter in Wasser versinkt. Obwohl die Pegel nun nicht mehr steigen, ist die Anspannung in den Gemeinden an der Elbe und ihren Nebenflüssen weiterhin groß, denn das Wasser drückt gegen die aufgeweichten Deiche.
An vielen Stellen - etwa zwischen Dömitz und Boizenburg - sickert es durch, Hilfskräfte bessern die Stellen aus. Lediglich in dem 26-Seelen-Ort Laasche im Landkreis Lüchow-Dannenberg sind die Mühen vergebens - dort bricht der Deich und überflutet die Ortschaft. Ansonsten halten die Deiche dem Druck stand - nicht nur, weil sich die Flutwelle langsam abschwächt, sondern auch, weil in Brandenburg und Sachsen-Anhalt fünf Havelpolder geöffnet wurden und dort Wasser abfließen konnte. Ab 25. August fallen die Pegel schneller als erwartet, sodass die Landkreise bereits am 27. August den Katastrophenalarm aufheben können.
Elbehochwasser wird zu extrem teurer Naturkatastrophe
Zerstörte Straßen und Eisenbahnbrücken, beschädigte Deiche, Wohn- und Gewerbegebäude, Felder, deren Ernte nicht mehr verwertbar ist: Das Elbehochwasser 2002 gilt bis zur Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli 2021 als teuerte Naturkatastrophe in der deutschen Geschichte. 11,6 Milliarden Euro beträgt der Gesamtschaden der Elbeflut 2002. Davon entfallen allein 8,6 Milliarden auf Schäden in Sachsen. Nur ein kleiner Teil davon ist durch Versicherungen abgedeckt. Ohne Unterstützung stehen die betroffenen Haushalte, Firmen und Landwirte allerdings nicht da, sie erhalten Soforthilfe, um über die Runden zu kommen und die schlimmsten Schäden zu beseitigen. Zehn Milliarden Euro stellen Bund, Länder, Gemeinden und die EU damals zur Verfügung. Bund und Länder verschieben die zweite Stufe der Steuerreform um ein Jahr von 2003 auf 2004. Rund 7,1 Milliarden Euro kommen so für den Fonds "Aufbauhilfe" zusammen.
Enorme Hilfs- und Spendenbereitschaft
Auch die Spendenbereitschaft ist enorm: Ob Firmen, Vereine oder Privatleute - alle zeigen sich solidarisch. "Ich habe mich dazu entschieden, eine Spende zu leisten, und hoffe, dass sich mir einige anschließen werden", sagt Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher damals und gibt eine Million für die Flutopfer. Viele tun es ihm gleich. Selbst aus dem Ausland kommt finanzielle Hilfe. Allein das Deutsche Rote Kreuz sammelt in einer gigantischen Spendenaktion rund 146 Millionen Euro von über 1,3 Millionen Spendern. Insgesamt gehen auf den verschiedenen Spendenkonten gut 500 Millionen Euro ein.
Investitionen in Hochwasserschutz werden hochgefahren
Nach der Katastrophe stellt sich nicht nur die Frage nach der Schadenregulierung, sondern auch die nach den Ursachen. Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Für viele Umweltexperten und Politiker steht fest: Der Mensch trägt mit seinen Eingriffen in die Natur maßgeblich dazu bei. Begradigte Flussläufe, immer mehr versiegelte Flächen, Bodenerosion und die Abholzung von Wäldern begünstigen Naturkatastrophen wie das Elbehochwasser 2002.
Nach der Flut wird viel Geld in den Bau und die Erneuerung von Deichen, Mauern und Rückhaltebecken investiert und das Meldesystem verbessert. Doch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) zieht zehn Jahre nach der Flut eine kritische Bilanz: "Bundesregierung und Elbanrainer-Länderregierungen haben nach der Jahrhundertflut 2002 vor der Presse versprochen, den Flüssen mehr Raum zu geben. Und kaum hatten sie den Presseraum verlassen, war das Versprechen schon vergessen", so der damalige BUND-Vorsitzende Hubert Weiger. Sämtliche bis dato umgesetzten Maßnahmen würden die Wassermassen von 2002 bei Weitem nicht aufnehmen können.
Klimawandel begünstigt auch künftig Überschwemmungen
Bund und Länder investieren auch in der Folge noch weiter in den Hochwasserschutz. Denn durch unter anderem durch den Klimawandel bedingte Wetterextreme machen folgenschwere Überschwemmungen auch nach dem Jahrhunderthochwasser von 2002 zu regelmäßigen, mittlerweile nahezu jährlichen Phänomenen.
Auch die deutsche Versicherungswirtschaft ist wenig optimistisch, sie erwartet eine deutliche Zunahme an Katastrophenschäden. Eine 2018 vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) veröffentlichte Klimastudie geht davon aus, dass sich die Schäden durch Hochwasser bis Ende dieses Jahrhunderts - ja nach zugrunde liegendem Klimamodell - verdoppeln oder sogar verdreifachen werden. Das verheerende Hochwasser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Sommer 2021 stützt die düsteren Szenarien mit einer traurigen Realität: 189 Menschen starben bei der Flutkatastrophe, die finanziellen Schäden werden mit mehr als 29 Milliarden Euro beziffert.