Als Niedersachsens Essen ins Rollen kam
Mittlerweile ist "Essen auf Rädern" ein feststehender Begriff. Erfunden wurde das Konzept in England. Am 18. Februar 1963 wurde "Essen auf Rädern" in Braunschweig gegründet - als erster mobiler Essensdienst in Niedersachsen.
Initiiert wurde die Aktion "Essen auf Rädern" vom mittlerweile verstorbenen Karl-Heinz Loschke, damals Geschäftsführer des Studentenwerkes Braunschweig. Das hatte bereits in den Jahren zuvor mit Senioren aus der Wohngegend Adventsnachmittage in der Mensa der Technischen Universität veranstaltet. Man traf sich zum Kaffeekränzchen - und lud Bedürftige zum Weihnachtsessen ein. Denn der Bedarf an warmem Essen war groß für diejenigen, die es sich nicht leisten konnten oder nicht in der Lage waren, es sich selber zuzubereiten.
Aus "Meals on Wheels" wird "Essen auf Rädern"
Als die ersten Absagen kamen, weil die alten Herrschaften zu gebrechlich wurden, kam Loschke ins Grübeln. Warum nicht für ein regelmäßiges Angebot sorgen und es den Menschen direkt nach Hause bringen? In England gab es so etwas bereits ab 1943 unter dem Namen "Meals on Wheels". Und mit der Braunschweiger Mensa war eine Großküche vor Ort, die das Essen zubereiten konnte. In Kooperation mit dem niedersächsischen Landesverband des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtverbands (damals DPWV) gründete Loschke daher den Verein DPWV Aktion Essen auf Rädern e. V.. Am 18. Februar 1963 nahm "Essen auf Rädern" den Betrieb auf - als erster Bringdienst in Niedersachsen und bundesweit nach Aachen und Krefeld der dritte.
Auslieferung im Henkelmann
Zubereitet wurde das Essen in der Mensa in der Braunschweiger Beethovenstraße - und ausgeliefert in sogenannten Henkelmännern: mehrstöckigen Blechbehältern mit Henkel, in denen Vorspeise, Hauptmahlzeit und Nachtisch als Menü getrennt voneinander transportiert werden konnten. Mit einem VW-Bulli und freiwilligen Studenten starteten die ersten Touren mit zehn Essen für Braunschweiger Seniorinnen und Senioren - direkt auf den Tisch. Die ersten Kunden wurden übrigens noch nicht so genannt: Sie hießen "Essensteilnehmer". Das Angebot kam sofort gut an: Bereits im Gründungsjahr lieferte der Verein rund 10.000 Portionen aus.
Die Aktion "Essen auf Rädern" traf ganz offenbar auf eine echte Bedarfslücke. Daher gründete der Paritätische Wohlfahrtsverband Niedersachsen in den unmittelbaren Folgejahren in den größeren kreisfreien Städten und Landkreisen Niedersachsens immer mehr Essensdienste.
Heute versorgen in Trägerschaft des Päritätischen noch 19 Dienste täglich rund 3.200 Menschen mit einer Mittagsmahlzeit.
Zivis werden zum Symbol für "Essen auf Rädern"
Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre wurden die freiwilligen Studenten für die Auslieferungen zunehmend von Zivildienstleistenden abgelöst - und der Zivi, der alten oder kranken Menschen das Essen nach Hause bringt und auch noch Zeit für eine kleine Plauderei hat, zum Symbol für "Essen auf Rädern". Wobei der Klönschnack vom Paritätischen durchaus als wichtiges Element im Service betrachtet wird: "Die meisten unserer Kunden sind hochbetagt und kommen erst dann zu uns, wenn keine andere Versorgungsmöglichkeit mehr besteht. Dabei sind Kontaktverluste und Vereinsamung in diesem Alter eine häufige Begleiterscheinung", heißt es vom niedersächsischen Landesverband. Der regelmäßige Kontakt zum Lieferpersonal sei daher oft der einzige soziale Kontakt überhaupt.
Und das damals wie heute. Mit der Abschaffung des Zivildienstes 2011 würden entsprechende Möglichkeiten durch den Bundesfreiwilligendienst nur unzureichend ersetzt. Daher seien mittlerweile überwiegend festangestellte Fahrerinnen und Fahrer bei "Essen auf Rädern" tätig. Doch auch die würden während der Auslieferung auch immer über den Rand der Alu-Schale blicken: Gehe es jemandem gesundheitlich schlecht, würden beispielsweise die Angehörigen informiert.
In den 80ern kommt die Speisekarte
Als Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre die Tiefkühltechnik Einzug hielt, bereicherte das auch den Service von "Essen auf Rädern". Zusätzlich zu den frisch gekochten Mahlzeiten gab es nun die Möglichkeit einer wöchentlichen Lagerhaltung - das Angebot konnte ausgeweitet werden.
Das Novum in den 80er-Jahren war dann der Speiseplan. Bis dahin wussten die Kunden nicht, was sie auf den Teller bekamen und wurden mit einem täglichen "Überraschungsmenü" beliefert. Einzig nach dem persönlichen Ernährungsbedarf wurde in "Vollkost", Zuckerdiät" oder "Magen-Galle-Diät" unterschieden. Nun war es möglich, sich sein Essen im Voraus auch nach dem persönlichen Geschmack auszuwählen. Mittlerweile umfassen die Menükarten in der Regel bis zu zehn verschiedene Gerichte täglich.
Kommerzielle Lieferdienste machen Konkurrenz
Mittlerweile ist "Essen auf Rädern" längst nicht mehr der einzige Anbieter. Neben zig Lieferdiensten für jedermann sind auch Krankenhäuser oder andere Einrichtungen, die Großküchen betreiben, auf die Idee gekommen, zusätzlich noch einen Menüdienst anzubieten. Ebenso wie kommerzielle Unternehmen, die den "Seniorenmarkt" für sich entdeckt haben - und ihrer Natur gemäß nach strikten wirtschaftlichen Kriterien arbeiten. Laut Paritätischem in Niedersachsen versorgen die aus diesem Grund vor allem die rentablen größeren Ballungsräume, bei denen sich der Aufwand pro ausgelieferter Mahlzeit aufgrund der Kundendichte in Grenzen hält.
Der Paritätische hingegen beliefere auch Kunden, die in entlegenen Gegenden wohnen - und das in der Regel an sieben Tagen in der Woche. Insbesondere im Flächenland Niedersachsen führe das zu einer Verschiebung der wirtschaftlichen Lasten. Hier seien unter anderem die Landkreise gefragt, durch Steuerung und Ausgleichsmaßnahmen für eine gewisse Gleichheit der Lebensverhältnisse zu sorgen. Ansonsten müssten gerade hochbetagte, behinderte oder pflegebedürftige Menschen aus strukturschwachen beziehungsweise ländlichen Regionen auch noch mit höheren Kosten zum Beispiel für "Essen auf Rädern" belastet werden.
Bedürftige können ihr Essen bezuschussen lassen
Als "Essen auf Rädern" seine Arbeit begann, waren die Essenspreise sozial gestaffelt: Der Preis für die Mahlzeiten errechnete sich nach dem Einkommen. Mithilfe von Spenden und Zuschüssen konnte der Paritätische dieses Modell bis zum Jahr 2003 aufrecht erhalten. Mittlerweile gibt es diese Staffelung nicht mehr. Allerdings können Kunden mit geringem Einkommen bei ihrer Stadt oder ihrem Landkreis einen Antrag auf anteilige Kostenübernahme stellen. Der Eigenbeitrag für ein Menü aus Vorspeise, Hauptmahlzeit und Dessert, das regulär zwischen acht und elf Euro kostet, beträgt dann nur noch etwa zwei Euro.
Die Preise des Essensdienstes setzen sich einerseits aus den Bezugskosten zusammen - der Paritätische unterhält keine eigenen Küchen, sondern kooperiert mit Krankenhäusern und anderen Einrichtungen mit Großküchen. Hinzu kommen die eigenen Personal- und Betriebskosten, die heute deutlich höher sind als zu Anfangszeiten: Der Wegfall der Zivis wird durch Festanstellungen kompensiert, die Energiekosten sind gestiegen und das Angebot mehrerer Menüs am Tag bedeutet einen höheren Aufwand.
In Braunschweig kocht noch immer die Mensa
Bei all den Veränderungen in den vergangenen sechs Jahrzehnten - zweierlei ist geblieben: Die Kunden von "Essen auf Rädern" sind überwiegend alte oder pflegebedürftige Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, sich vollständig selbstständig zu versorgen - aber so lange wie möglich in ihrer häuslichen Umgebung bleiben möchten. "Wir sind weiter für die Menschen da. Nicht mehr überall im Land, aber gerade im ländlichen Raum", so Uwe Kreuzer vom Paritätischer Wohlfahrtsverband Niedersachsen e.V..
Und: Werktags wird das Essen in Braunschweig noch immer in der Mensa in der Beethovenstraße gekocht.