Lieferdienst Gorillas: Glanz und Elend eines Start-ups
Noch vor nicht allzu langer Zeit war der Lieferdienst Gorillas ein Liebling von Medien und Investoren. Doch inzwischen steckt das Start-up offenbar in der Krise.
Intern heißen sie auch die "Kagan-Predigten": Interne Videokonferenzen beim Lieferdienst Gorillas, in denen im 2-Wochen-Takt der Gründer Kagan Sümer seine Mitarbeiter auf seine Mission einschwört. "In 20 Jahren werden wir sagen - wir haben verdammt nochmal das neue Nike gebaut" - so formulierte er es im Januar dieses Jahres, "Wir werden einen Einfluss von vergleichbarem Ausmaß haben." Und im Mai rief er den online zugeschalteten Mitarbeitern zu: "Wir haben eine Bewegung geschaffen, nicht nur ein Unternehmen."
Panorama und der "Süddeutschen Zeitung" liegen mehr als zwei Dutzend der "Predigten", Präsentationen sowie interne Dokumente des Lieferdienstes vor. Sie geben Hinweise darauf, warum der kürzlich noch gehypte Lieferdienst offenbar finanziell in der Sackgasse steckt. Erst große Visionen, Expansionspläne um die halbe Welt, jetzt bleiben Millionenverluste: Interne Informationen geben bislang nie dagewesene Einblicke ins Innerste des Start-up.
Noch vor nicht allzu langer Zeit war der Lieferdienst Gorillas ein Liebling von Medien und Investoren. Ein im Lockdown gegründetes Berliner Start-up, das Einkaufen per App ermöglichte. Im März 2021 wird Gorillas von Investoren mit einer Milliarde Dollar bewertet, noch nie zuvor war ein deutsches Start-up so schnell so wertvoll. Doch inzwischen steckt der Lieferdienst offenbar in der Krise, die Investorengelder schmelzen, ein Rettungs-Verkauf an Rivalen steht zur Debatte.
Ein Grund: Noch im Juli machte Gorillas internen Dokumenten zufolge bei einer Durchschnittbestellung von 27,20 Euro nach Abzügen aller operativen Kosten unterm Strich ein Minus von 5,30 Euro. Dabei sind noch nicht einmal die Zusatzkosten für Verwaltung, Zentrale und Marketing eingerechnet. Jede Bestellung erhöht also das Minus in der Kasse des Lieferdienstes. Dabei sind die Zahlen schon deutlich besser als noch vor einem Jahr. In einer internen Videokonferenz sagte Sümer seinen Mitarbeitern, dass im September 2021 noch jede Bestellung von 25 Euro ein Minus von ebenfalls ganzen 25 Euro bedeutet habe.
Gorillas will sich dazu auf Anfrage nicht äußern
Wie schnell sich die Verluste bei vielen Bestellungen summieren, zeigt die sogenannte Cash burn rate - damit ist gemeint, wie viel Verlust das Start-up im laufenden Geschäft macht, also wie vielGeld sprichwörtlich verbrannt wird. Diese Verluste, die Gorillas-Gründer Sümer im August seinen Mitarbeitern präsentierte, lagen zu Jahresbeginn noch bei 52 Millionen Euro im Monat. Bis Juli sind sie demnach dank radikaler Sparmaßnahmen zumindest auf rund 25 Millionen gesunken.
Immer noch eine beachtliche Zahl, dabei hat Gorillas bereits die Hälfte seiner Mitarbeiter in der Zentrale entlassen, sein Geschäft in ganzen Ländern wie Italien und Belgien dicht gemacht und auch in Deutschland und Holland nach und nach Warenlager geschlossen, die zu hohe Verluste schreiben. Nicht einberechnet sind einmalige Kosten, die ebenfalls in Millionenhöhe liegen können.
Die ersten Sparmaßnahmen läutete Gorillas bereits im Herbst 2021 auf Druck der Investoren ein. Eigentlich war es der größte Erfolgsmoment in der Geschichte des Start-ups: Sümer war es gelungen, eine Milliarde Dollar Investorengeld einzusammeln. Aber aus dem Board, einem Gremium, über das Investoren Einfluss auf den Kurs des Start-ups nehmen, habe es im Hinblick auf Veränderungen am Zinsmarkt geheißen: Gorillas muss "von 'Lasst uns um jeden Preis wachsen' zu 'Wir müssen auch langsam mal zeigen, dass das mittelfristig profitabel werden kann'" umstellen, so formuliert es einer der Investoren, Philipp Klöckner, gegenüber Panorama und der "Süddeutschen Zeitung". Klöckner selbst wird von einem anderen Investor in dem Gremium vertreten.
Wachstum um jeden Preis
In der Anfangsphase galt bei dem Start-up offenbar die Devise: Wachstum um jeden Preis. Was das bedeutete, zeigt ein Blick auf die Expansionspläne von Gorillas: Der Lieferdienst wollte nicht nur Deutschland und Europa erobern, sondern die halbe Welt - bis nach Australien. Alle diese Pläne wurden im Herbst 2021 auf Eis gelegt. Gorillas äußert sich dazu schriftlich: "[...] Mit Beginn des dritten Quartals 2021 haben wir unseren strategischen Fokus von Hyperwachstum auf einen klaren Weg zur Profitabilität verlagert. Als Teil dieses Wandels haben wir uns entschieden, unsere Aufmerksamkeit auf unsere Schlüsselmärkte zu richten und unsere Expansionspläne zu pausieren."
Nachdem sich die Lage am Finanzmarkt im Frühjahr mit dem Krieg in der Ukraine dramatisch zuspitzte, unternahm Gorillas radikale Schritte: Im Mai 2022 wurden 300 Mitarbeiter der Zentrale entlassen, die Hälfte der Belegschaft dort. Das Geschäft in Italien, hier hatte Gorillas schon zwei Dutzend Warenlager eröffnet, wurde wieder geschlossen, die Lager geräumt. In Spanien reduzierte Gorillas die Zahl der Warenlager, in Belgien verkaufte das Start-up den Großteil der Firma. Auch in Holland und Deutschland schließt Gorillas weiterhin Warenlager, die wenig Chance auf Profitabilität haben, wie zuletzt etwa in Dortmund, Gelsenkirchen, Münster und Bochum.
Seif El-Sobky hat bei Gorillas an den Expansionsplänen mitgewirkt. Zuletzt war er dort als "Direktor Einkauf" beschäftigt. Im Mai wurde auch er von seinem Posten entlassen, jetzt hat er mit "Seyouf Kitchen" eine Produktion für ägyptisches Streetfood gegründet. Nun ist der gebürtige Ägypter der erste ehemalige Mitarbeiter, der sich offen vor einer Kamera äußert. "Wir haben uns komplett überschätzt“, sagt der 33-Jährige heute. "Zu der Zeit dachten wir, dass wir alles tun können, was wir wollen." Die übereilten Expansionspläne seien zu riskant gewesen, da Gorillas noch nicht einmal in einem Land bewiesen hatte, dass das Geschäftsmodell funktionieren kann.
Gründer Sümer hält bislang trotz allem an seinen Visionen fest. "Wir haben eine Bewegung geschaffen, nicht nur ein Unternehmen", sagte er noch im Mai seinen Mitarbeitern bei einem Videomeeting. Ob hinter der Vision auch ein funktionierendes Geschäftsmodell steht, ist zweieinhalb Jahre nach der Gründung von Gorillas weiter offen. Investor Klöckner sagt, die Entwicklung von Gorillas gleiche den typischen Phasen junger Start-ups, nur die Ausmaße seien extremer. Auch im Hinblick auf die Verluste: "Das ist normal und das ist das Erfordernis, wenn man etwas wirklich Großes bauen will. Es gibt ja niemanden, der heute Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg vorwirft, dass sie am Anfang Hunderte von Millionen verbrannt haben."