Erstes Handels-U-Boot "Deutschland" überquert 1916 den Atlantik
Um die britische Seeblockade zu umgehen, bauen die Deutschen im Ersten Weltkrieg in Kiel ein Handels-U-Boot. Die "Deutschland" erreicht am 9. Juli 1916 die USA - eine Weltpremiere.
"Wie ein Traum von Jules Vernes", titelt eine amerikanische Zeitung, als 1915 das Gerücht aufkommt, die Deutschen planten ein riesiges Unterwasser-Frachtschiff, um die britische Blockade der Nordsee im Ersten Weltkrieg zu durchbrechen, die das Kaiserreich vom Überseehandel abgeschnitten hat.
Doch britische Marinefachleute winken ab, sie halten den Bau eines solchen U-Bootes für vollkommen "undurchführbar". Was sie nicht wissen: Bei der Krupp Germaniawerft in Kiel, der damals führenden U-Boot-Fabrik der Welt, sind schon längst zwei Tauchfrachter in Arbeit.
Kaufleute wollen die britische Seeblockade brechen
Die Idee stammt von dem Bremer Großkaufmann Alfred Lohmann, der den Rohstoffmangel der deutschen Rüstungsindustrie beheben will, die dringend seltene Rohstoffe wie Nickel und Rohgummi braucht. Außerdem will er endlich wieder Geschäfte machen.
Im November 1915 gründet er für den Betrieb der neuartigen Boote die Deutsche Ozean-Reederei mit Sitz an der Weser. Und schon im März des folgenden Jahres läuft die "Deutschland" in der Kieler Förde vom Stapel. Das erste Handels-Unterseeboot der Welt hat fast drei Millionen Mark gekostet.
Mit seinen 65 Metern Länge und neun Metern Breite ist es nur wenig größer als die normalen Kriegs-U-Boote. Es fasst mehr als 700 Tonnen Ladung, etwa ein Zehntel der Tragfähigkeit eines gewöhnlichen Übersee-Frachters. Bei einer maximalen Tauchtiefe von 50 Metern reicht die Luft im Boot für 120 Kilometer Unterwasserfahrt.
Chemische Produkte und Post für die USA
Am 14. Juni 1916 startet die "Deutschland" von Kiel aus in die noch immer neutralen USA. An Bord hat sie 163 Tonnen chemische Farbstoffe und Medikamente wie das Syphilis-Mittel Salvarsan im Wert von 60 Millionen Mark, außerdem Bank- und Diplomatenpost.
Die Amerikaner feiern die Ankunft
Die 28 Mann Besatzung tragen Reederei-Uniformen. Offiziell sind sie Zivilisten, aber unter ihnen befinden sich auch Marinesoldaten mit U-Boot-Erfahrung. Obwohl die Briten geheime Funksprüche entschlüsselt haben und über die Abfahrt der "Deutschland" informiert sind, können sie das Boot nicht aufhalten.
Es durchbricht die Seeblockade bei Schottland und legt die mehr als 6.000 Kilometer an die Ostküste der USA innerhalb von drei Wochen zurück. In der Nacht zum 9. Juli 1916 nimmt der Kapitän in der Chesapeake Bay einen völlig überraschten Lotsen an Bord, der das Boot an das Ziel der Reise geleiten soll, die amerikanische Hafenstadt Baltimore. Dort läuft die "Deutschland" anderntags mit der schwarz-weiß-roten Handelsflagge am Heck ein, von Hunderten Schaulustigen und Pressevertretern begeistert gefeiert.
Die erste Atlantiküberquerung eines Handels- U-Bootes wird zu einem ungeheuren Triumph. Zahlreiche Zeitungsartikel erscheinen. Die kaiserliche Kriegspropaganda schwärmt vom "neuen Wunder deutscher Schiffbaukunst". Und in Büchern breiten beteiligte Seeleute später ihre Erlebnisse aus.
Rohstoffe aus den USA für die deutsche Rüstungsindustrie
Obwohl Briten und Franzosen sofort die Festsetzung als Kriegsschiff verlangen, bescheinigen die US-Behörden der unbewaffneten "Deutschland" Harmlosigkeit - wohl auch, weil ihre Ladung, die aus Produkten der weltweit führenden deutschen Chemieindustrie besteht, für die USA unverzichtbar scheint.
Am 1. August tritt U-"Deutschland" die Rückreise an. Mit an Bord: 348 Tonnen Kautschuk, 341 Tonnen Nickel und 93 Tonnen Zinn, die den Bedarf deutscher Rüstungsfabriken für mehrere Monate decken sollen. Das Auslaufen wird zum Volksfest. Dutzende Boote begleiten die "Deutschland", die kurz vor dem Erreichen der internationalen Gewässer abtaucht.
Die britische Flotte jagt die Handels-U-Boote
Auch diesmal sind die Briten vorbereitet. Auf dem Atlantik warten 32 ihrer Kriegsschiffe. Das Blockade-Amt hat 50.000 Mark für die Versenkung ausgesetzt. Und in London stehen die Wetten 93,5:1 gegen eine Rückkehr des Bootes.
Doch am 23. August taucht es bei Helgoland unversehrt wieder auf und läuft zwei Tage später über die Toppen geflaggt mit seiner wertvollen Fracht in den Bremer Freihafen ein, von einer jubelnden Menschenmenge begrüßt. Kaiser Wilhelm II. ehrt Reedereidirektor Lohmann und den Kapitän der "Deutschland" mit einem Festessen. Auch finanziell ist die Fahrt ein Erfolg: Der Gewinn aus dem Verkauf der Ladung beträgt mehr als 17 Millionen Mark, ein Vielfaches der Baukosten.
U-"Bremen" geht verloren
Zu diesem Zeitpunkt ist das zweite Handels-Unterseeboot, die "Bremen", bereits zu ihrer ersten Fahrt in die USA aufgebrochen. Doch ihr Ziel wird sie nie erreichen. Vermutlich ist sie bei den Orkney-Inseln auf eine Mine gelaufen oder vor Island mit einem britischer Zerstörer kollidiert und dann beschädigt gesunken. Sie gilt bis heute als verschollen.
Kriegseintritt der USA beendet die Episode
Die "Deutschland" startet im Oktober dennoch zu einer zweiten Überfahrt. Sie bringt erneut Farbstoffe, Medikamente und andere Chemikalien in die USA - im Austausch gegen die kriegswichtigen Rohstoffe. Zu einer dritten, für den Februar 1917 geplanten Reise kommt es allerdings nicht mehr. Denn Kaiser Wilhelm II. hat inzwischen den uneingeschränkten U-Boot-Krieg beschlossen, der auch die zivile und neutrale Schifffahrt nicht verschont. Deshalb brechen die USA die diplomatischen Beziehungen ab und treten im April in den Krieg gegen Deutschland ein.
Zivile Boote werden zu Kriegsschiffen
Sechs weitere Fracht-U-Boote, die auf Werften in Bremen, Hamburg und Flensburg bereits auf Kiel gelegt sind, werden jetzt mit Kanonen und Torpedos zu Untersee-Kreuzern umgebaut und gehen auf Feindfahrt, auch die "Deutschland", die als "U 155" bis zum Kriegsende im November 1918 insgesamt 43 Schiffe versenkt, bevor sie 1922 in England abgewrackt wird.
Weitere Handels-Unterseeboote werden nie gebaut, auch wenn die Idee immer wieder einmal auflebt, etwa in den 1980er-Jahren für atomgetriebene Supertanker, die Erdgas von Alaska unter dem arktischen Eis hindurch nach Europa transportieren sollten.