Vor 100 Jahren: Ekel-Sülze löst Aufstand aus
Hamburg im Juni 1919: Der Erste Weltkrieg ist vorbei, doch die politischen Spannungen halten an. Zwar gibt es seit März einen neuen, demokratisch gewählten Senat, aber noch immer kommt es regelmäßig zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen reaktionären paramilitärischen Freikorps-Einheiten und Kommunisten. Hinzu kommt die Nahrungsmittelknappheit: Lebensmittel sind für die einfache Bevölkerung kaum erschwinglich.
"Delikatess-Sülze" aus Kadavern?
Am 23. Juni bringt eine Straßenpanne das Fass buchstäblich zum Überlaufen: Einem Fuhrmann kippt beim Fässer-Verladen in der Kleinen Reichenstraße ein Fass der Fleischwarenfabrik Heil auf die Straße - die Fabrik produziert die "Heilsche Delikatess-Sülze", laut Werbeplakaten "Sülze von größtem Nährwert und delikatem Geschmack". Das Fass zerbricht und der Inhalt ergießt sich einigen Arbeitern vor die Füße. Diese sind über die stinkende, "breiige, undefinierbare Masse" entsetzt. Sie dringen in die Fleischfabrik Heil ein, um zu prüfen, was genau dort zu Sülze verarbeitet wird. Dabei stoßen sie auf "Haufen von Fellen und Häuten", welche "mit einer dicken Schimmelschicht überzogen waren", wie es später in einem Gerichtsurteil heißt.
Volkszorn und Selbstjustiz
Immer mehr Menschen strömen zusammen, sie schleifen den Fabrikbesitzer Jacob Heil aus seinem Kontor, prügeln ihn nieder, bringen ihn zum Rathausmarkt und werfen ihn in die Kleine Alster. Der Fabrikant wird gerettet und ins Rathaus gebracht, die aufgebrachte Menge versucht daraufhin, ins Gebäude einzudringen. Am nächsten Morgen protestieren wütende Menschen nicht nur vor der Fleischwarenfabrik Heil, sondern auch auf dem Rathausmarkt. Demonstranten stürmen weitere Fleischwarenfabriken und finden auch dort stinkende Kadaverabfälle. Sie verwüsten das Kriegsversorgungsamt, weil dieses, als zentrale Institution der Nahrungsmittelversorgung, die unhygienische Sülze-Produktion nicht verhindert hat.
Gerüchte über Ekel-Fleisch
Derweil kursieren Gerüchte über Marder-Kadaver oder ausgeweidete Ratten - alles hat angeblich irgendwer in den Fabriken entdeckt. Auch die Zeitungen heizen die Stimmung weiter an, berichten, wie etwa die "Hamburger Volkszeitung", von "halb verarbeiteten Katzen, Hunden und Ratten". Die zornigen Menschen versuchen das Rathaus zu stürmen und lassen sich nur durch Tränengas, Wasserwerfer und Schreckschuss-Pistolen zurückdrängen.
Proteste enden in gewalttätigen Auseinandersetzungen
Volkswehr, Polizei und das Wachpersonal des Rathauses rufen die im Volk verhassten Bahrenfelder zur Hilfe, eine Truppe von Freiwilligen, die überwiegend aus Kriegsoffizieren besteht. Sie rücken mit Stahlhelmen und Maschinengewehren an. Die Situation eskaliert: Die Bahrenfelder schießen in die Menge, militante Aufständische, die durch Plünderungen an Waffen gelangt sind, schießen zurück. Die Kämpfe dauern die ganze Nacht.
Am Morgen des 25. Juni verkündet Walther Lamp'l, Kommandant der Bahrenfelder, den Belagerungszustand über Hamburg. Wenig später stürmen die Aufständischen das Rathaus, erbeuten die dort gelagerten Waffen und nehmen viele Bahrenfelder gefangen, einige werden getötet. Am Nachmittag erstürmen die Protestierenden weitere Gebäude, unter anderem das Hamburger Untersuchungsgefängnis und das Polizeigefängnis in Altona.
Reichswehr rückt in Hamburg ein
Während der Hamburger Senat die Reichswehr aus Berlin rufen will, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen, versuchen Betriebsräte und die Volkswehr die Aufständischen zu beruhigen. Doch obwohl die Bahrenfelder wieder freigelassen werden und sich die Lage weitgehend beruhigt hat, rücken am 1. Juli die Truppen der Reichswehr mit Maschinengewehren, Minenwerfern und Panzern in Hamburg ein.
Die Aufständischen verhalten sich weitgehend ruhig. Sie wissen, dass sie gegen die Truppen aus Berlin keine Chance haben. Dennoch gibt es zahlreiche Zwischenfälle - und die Reichswehr erfüllt ihren Auftrag mit großer Brutalität. Sie entwaffnet die Zivilbevölkerung und erschießt auch einige Unbeteiligte. Vermeintliche Rädelsführer werden verhaftet, die meisten jedoch aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen.
Hungerrevolte statt politischer Aufstand
Historiker sind sich heute weitgehend einig, dass die Unruhen nicht, wie oft behauptet, von der KPD instrumentalisiert wurden, um den Hamburger Senat zu stürzen. Es habe sich nicht um einen politischen Protest, sondern vorwiegend um eine Revolte angesichts der schlechten Versorgung mit Lebensmitteln gehandelt. Allerdings beteiligten sich auch verschiedene linke Gruppierungen, darunter die USPD und der Spartakus-Bund, aktiv an den Aufständen.
Neues Gesetz verbessert Kontrollen
Insgesamt kommen bei den Unruhen 80 bis 90 Menschen ums Leben. Im September 1919 reagiert der Senat mit einem neuen Lebensmittelgesetz, das die Hersteller dazu zwingt, über ihre Inhaltsstoffe Auskunft zu geben. Hygiene-Inspektionen in Lebensmittelbetrieben werden massiv verstärkt.
Was in der Heilschen "Delikatess-Sülze" tatsächlich drin war, bleibt ungeklärt. Beweise, dass wirklich Ratten, Hunde und Katzen verarbeitet wurden, gibt es nicht. Jacob Heil wird nach den Unruhen zu drei Monaten Gefängnis und 1.000 Mark Geldstrafe verurteilt, eröffnet aber schon bald eine neue Fleischwarenfabrik.
Wandbild erinnert an Hamburgs Gammelfleisch-Skandal
Seit 2015 erinnert am Gebäude der Hamburger Verbraucherzentrale ein großes Wandbild an den historischen Gammelfleisch-Skandal, der als Sülze-Unruhen in die Geschichte der Hansestadt einging. Das Rathaus zeigt zum 100. Jahrestag der Ereignisse bis zum 4. Juli 2019 eine Ausstellung zum Thema in der Rathausdiele.