Jahrzehnt der Einheit: Dokumentation eines Umbruchs
Wie sich Ereignisse zu einem Umbruch von historischem Ausmaß entwickeln, zeigt sich im Nachhinein etwa über die Analyse der Berichterstattung. So ist die Tagesschau, älteste Nachrichtensendung der Bundesrepublik, selbst ein Dokument der Zeitgeschichte. 30 Jahre nach dem Mauerfall zeigt ein Rückblick auf zehn Jahre Berichterstattung, wie auf die Euphorie über den Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung die Auseinandersetzung mit der geteilten Vergangenheit eines einst gespaltenen Landes folgte. Wann waren welche Politiker wichtig, wann verschwanden sie von der Bildfläche? Welche Schlagworte tauchten in den Sendungen besonders häufig auf? Anhand dieser Fragen lässt sich rekonstruieren, in welchen Schritten sich die politischen und die gesellschaftlichen Debatten um das Ende der DDR und die Deutsche Einheit entwickelt haben - eine Chronologie in Daten.
9. November 1989: Schabowskis Worte des Umbruchs
Als Günter Schabowski am 9. November 1989 um 18.53 Uhr auf einer Pressekonferenz verkündet, dass die Grenze ab sofort für alle DDR-Bürger offensteht, bereitet sich Tagesschau-Sprecher Jo Brauner gerade auf die Sendung vor. Nur wenig später verliest er die historische Meldung:
"Ausreisewillige DDR-Bürger müssen nach den Worten von SED-Politbüromitglied Schabowski nicht mehr den Umweg über die Tschechoslowakei nehmen."
Die Pressekonferenz - und deren Folgen - sind Thema Nummer eins in der Tagesschau wie auch in allen anderen großen Medien. Und sie kommt überraschend, wie sich Nachrichtensprecher Brauner erinnert: "Wegen der sich überschlagenden Ereignisse wurden am 9. November die Meldungen für die 20-Uhr-Sendung ständig umgeschrieben, die Schabowski-Pressekonferenz hatte erst kurz vor der Sendung stattgefunden. Die ganze Tragweite habe ich erst in der Nacht erfasst."
Die DDR ist 1990 Thema in fast jeder Ausgabe
Mit dem Fall der Mauer zerbricht das SED-Regime endgültig - über Nacht. Doch die Abwicklung der DDR sollte die Bundesrepublik noch viele Jahre beschäftigen. So zeigen die Daten aus der Tagesschau-Analyse: 1990 ist die DDR Thema in nahezu jeder Sendung. Auch im darauffolgenden Jahr findet die Auseinandersetzung mit dem dann schon nicht mehr existierenden Staat noch in mindestens jeder zweiten Folge statt. Die Relevanz der DDR in der Berichterstattung nimmt nur langsam ab. Mehr als fünf Jahre nach dem Mauerfall berichtet die Tagesschau noch in jeder fünften Sendung über den einstigen SED-Staat.
Von Reform und Flucht zu Wahl und Einheit
So präsent der ehemalige Staat im Osten des Landes in den Fernseh-Nachrichten ist, so sehr verändert sich innerhalb weniger Monate die Themenlage - und dokumentiert so, welch gewaltiger Umbruch sich innerhalb Deutschlands in kürzester Zeit vollzieht. Bestimmen 1989 noch Flüchtlinge, Ausreisewillige, geforderte Reformen innerhalb der DDR und die innerdeutsche Grenze die Nachrichtenlage, ist das Bild 1990 ein gänzlich anderes. Das Projekt Deutsche Einheit nimmt in rasantem Tempo Form an. "Umrahmt" von zwei geschichtsträchtigen Abstimmungen: Am 18. März 1990 findet zunächst die erste freie - und zugleich letzte - Volkskammerwahl in der DDR statt. Die DDR-Bürger sind aufgerufen, ihre Stimme für eine neue Gesellschaftsform abzugeben. Nur zwei Monate nach der Wiedervereinigung wird der erste gesamtdeutsche Bundestag gewählt.
Auf dem Weg zur staatlichen Einheit gehören die Wirtschaft und die Währungsunion zu den bestimmenden Themen. So fällt die innerdeutsche Grenze endgültig, als es ab Juli 1990 ein gemeinsames Zahlungsmittel gibt: Mit der harten Währung aus dem Westen, der Deutschen Mark, wird nun auch im Osten offiziell gezahlt. In der Tagesschau heißt es dazu:
"Mit der Einführung einer gemeinsamen Währung und der Aufhebung der Grenzkontrollen ist die Einheit Deutschlands seit heute, null Uhr, praktisch vollzogen. Der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist in Kraft getreten. Die Deutsche Mark wurde damit auch in der DDR einziges offizielles Zahlungsmittel. Die Bürger der DDR begrüßten die Einführung von Marktwirtschaft und DM mit Jubel, Böllerschüssen und Hupkonzerten."
3. Oktober 1990: DDR endet unter der "Fahne der Einheit"
Vier Tage vor ihrem 41. Gründungstag wird das Ende der DDR besiegelt. Um Mitternacht am 3. Oktober 1990 wird die bundesdeutsche Flagge, die "Fahne der Einheit", vor dem Reichstag in Berlin gehisst - zu den Klängen der Freiheitsglocke. Die Tagesschau leitet ihre Sendung am Tag der Deutschen Einheit mit folgenden Worten ein:
"Die Deutschen leben wieder in einem souveränen, freien und geeinten Land. 45 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg endete in der vergangenen Nacht die deutsche Teilung. Die DDR und die Bundesrepublik vereinigten sich zu einem Staat."
Meist genannt: Helmut Kohl, Kanzler der Einheit
Als treibende Kraft und Gestalter gilt CDU-Kanzler Helmut Kohl als der politische Mann hinter der Deutschen Einheit. Kein anderer deutscher Politiker wird zwischen Herbst 1989 und Winter 1998 so oft in der Tagesschau erwähnt wie der damalige Bundeskanzler. Als Spitze der Bundesregierung führt er mit der Erwähnung in durchschnittlich jeder zweiten Sendung auch die Schlagzahl in der Berichterstattung an. Nach der Wiedervereinigung gilt der erste politische Ton des Einheitskanzlers der zukünftigen Rolle Deutschlands in Europa und der Welt:
"Bundeskanzler Kohl hat allen Staaten der Welt die friedliche Partnerschaft des vereinten Deutschland zugesichert. In einer Botschaft an die Staats- und Regierungschefs bekräftigt Kohl, dass Deutschland nie wieder Gebietsansprüche erheben werde. Es erkenne den endgültigen Charakter seiner Grenzen an und verpflichte sich zum Gewaltverzicht."
Mit der DDR geht auch Erich Honecker
Das Ende des SED-Regimes geht 1989 einher mit dem Sturz Erich Honeckers, der die DDR 18 Jahre lang regiert hatte. Seit 1971 war er Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Staatsratsvorsitzender der DDR, bis er am 18. Oktober 1989 vom Politbüro zum Rücktritt gezwungen wird.
In der Folge wird über den einstigen Staatschef zunehmend weniger berichtet - mit einer Ausnahme: Als am 12. November 1992 vor dem Landgericht in Berlin der Prozess gegen ihn - unter anderem wegen Anstiftung zum Totschlag im Rahmen des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze - beginnt, ist das die erste Nachricht in der Tagesschau:
"Wegen der Toten an der innerdeutschen Grenze stehen Erich Honecker und fünf weitere SED-Führer jetzt in Berlin vor Gericht. Drei Jahre nach dem Umbruch in der DDR begann das Verfahren heute unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Honecker und die anderen ehemaligen Spitzenfunktionäre sind nach Ansicht der Ankläger für den Schießbefehl an Mauer und Stacheldraht direkt verantwortlich, und zwar als Mitglieder des damaligen Nationalen Verteidigungsrates."
Nach der Wiedervereinigung beginnt die Aufarbeitung
Das Verfahren gegen den ehemaligen SED-Parteichef dominiert zunächst die Berichterstattung rund um die DDR. Auch in den darauffolgenden Jahren geht es in diesem Zusammenhang stets um die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit - insbesondere vor Gericht.
Staatssicherheit, Rechtsbeugung, Grenztruppen: Über etliche Jahre hinweg dokumentiert die Tagesschau die Aufklärung über die Geschichte des SED-Regimes in der DDR. Berichten über die Opfer - darunter DDR-Flüchtlinge und Menschen, die an der innerdeutschen Grenze starben - folgen solche über das Justiz-Unrecht und die Strafverfolgung von Richtern und Staatsanwälten der ehemaligen DDR wegen Rechtsbeugung.
"Das Jahrzehnt ab 1990 begann mit der Freude über den Mauerfall und einer Offenheit für die zukünftige Entwicklung eines neuen vereinten Deutschlands", sagt Rainer Hering, Professor im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte der Universität Hamburg. Es endete damit, dass die Aufarbeitung des SED-Regimes noch nicht abgeschlossen war - und die politischen und sozialen Folgen der Wiedervereinigung den gesellschaftlichen Diskurs weiterhin bestimmten.