Feuerwehrleute am 23. November 1992 am Ort des Brandanschlags in Mölln © picture alliance/AP Images Foto: Christian Eggers

1993: Attentäter des Brandanschlags von Mölln verurteilt

Stand: 08.12.2023 05:00 Uhr

Am 23. November 1992 kam es im schleswig-holsteinischen Mölln zum ersten rassistischen Anschlag im wiedervereinten Deutschland: Drei Türkinnen starben. Gut zwölf Monate später - am 8. Dezember 1993 - wurden die zwei Täter zu Haftstrafen verurteilt.

Es ist die Nacht auf den 23. November 1992, die das Gesicht der beschaulichen "Eulenspiegel-Stadt" Mölln in Schleswig-Holstein verändert. Der damals 19-jährige Lars C. und der 25-jährige Michael P. werfen Brandsätze in zwei Häuser in der Ratzeburger Straße und der Mühlenstraße, die von türkischen Familien bewohnt werden. Im Haus in der Mühlenstraße fallen zwei Mädchen dem Feuer zum Opfer - die zehnjährige Yeliz Arslan und die 14-jährige Ayse Yilmaz - sowie die 51 Jahre alte Bahide Arslan. Sie stirbt bei dem Versuch, die beiden Mädchen zu retten. Ihren siebenjährigen Enkel Ibrahim Arslan kann sie zuvor noch in nasse Tücher wickeln und bewahrt ihn so vor dem Tod in den Flammen.

"Unser Glück im Unglück": Neonazis bekennen sich zur Tat

Neun Menschen werden bei den Bränden schwer verletzt. Bei Polizei und Feuerwehr meldet sich ein anonymer Anrufer, um auf die brennenden Häuser hinzuweisen - und schließt seine Ausführungen jeweils mit den Worten "Heil Hitler". Lars C. und Michael P., die der Skinhead-Szene zugeordnet werden, werden wenige Tage nach der Tat festgenommen. "Unser Glück im Unglück war, dass die Neonazis, die uns das angetan haben, in der Nacht des Anschlags bei der Polizei angerufen und sich als Neonazis zur Tat bekannt haben", sagt Ibrahim Arslan, der den Anschlag dank seiner Großmutter knapp überlebt hat, später.

Bundesanwaltschaft übernimmt die Ermittlungen zu Mölln

Der Anschlag von Mölln erregt weltweit Aufsehen - und die Stadt wird zum Sinnbild für mörderischen Fremdenhass. In ganz Deutschland protestieren Menschen mit Lichterketten gegen wachsenden Rechtsradikalismus. An der Trauerfeier für die Opfer am 27. November 1992 in Hamburg nehmen mehr als 10.000 Menschen teil. Die Ermittlungen zu dem Brandanschlag zieht die Bundesanwaltschaft an sich - ein Novum. Der Anschlag sei dazu bestimmt gewesen, "die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen", begründet der damalige Generalbundesanwalt Alexander von Stahl die Entscheidung.

"Teil einer Kette von Ereignissen"

Menschen vor einem brennenden Auto bei den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 © Reuters/Corbis Foto: Lutz Schmidt
Erst im August 1992 war es in Rostock zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Asylbewerber gekommen.

Schon vorher hatte es in Deutschland Anschläge und Attacken gegen Ausländer gegeben. Erst drei Monate zuvor hatten die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen für Entsetzen gesorgt: Rechte Randalierer belagerten in der Plattenbau-Vorstadt ein überfülltes Asylbewerberheim und warfen schließlich unter dem Applaus von Anwohnern Brandsätze auf ein dort ebenfalls untergebrachtes Ausländerwohnheim. Ein Jahr zuvor war im sächsischen Hoyerswerda ein Ausländerheim mit Brandsätzen und Stahlkugeln angegriffen worden, mehrere Menschen wurden verletzt. Rechtsradikale Parteien feierten nach der Wiedervereinigung Wahlerfolge, es tobte eine Debatte über die Asylpolitik. "Mölln war kein singulärer Vorfall, sondern Teil einer Kette von Ereignissen", sagte Jan Wiegels, von 2010 bis 2022 Bürgermeister von Mölln, später.

Gewalt gegen Ausländer erreicht neue Stufe

Mit dem Anschlag von Mölln erreicht die Gewalt gegen Minderheiten eine neue Stufe: Es ist der erste rassistisch motivierte Anschlag im wiedervereinten Deutschland, bei dem Menschen sterben. Es folgen die tödlichen Attacken im nordrhein-westfälischen Solingen am 29. Mai 1993, bei denen fünf Menschen ums Leben kommen. Viele Türken fragen sich in dieser Zeit, ob Deutschland für sie noch Heimat sein kann. Die Bewohner der in Brand gesetzten Häuser in Mölln hatten schon seit Jahren in Deutschland gelebt, eines der getöteten Mädchen war in Deutschland zur Welt gekommen. Das andere Mädchen hatte seine Großmutter besucht.

Rechtsextremem Treiben zu lange tatenlos zugesehen?

Mölln sieht sich nach den Anschlägen Vorwürfen ausgesetzt, dem Treiben rechtsextremer Jugendlicher zu lange tatenlos zugesehen zu haben. Schließlich war die rechte Gesinnung der beiden Täter in der Region bekannt.

Mölln-Täter zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt - und vorzeitig entlassen

Mehrere Tausend Menschen gedenken am 23. November 1992 in Hamburg den Opfern des Brandanschlags von Mölln. © picture alliance/dpa Foto: Fotoreport
Nach dem Anschlag gibt es überall in Deutschland Demonstrationen gegen Fremdenhass.

Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht verurteilt Michael P. am 8. Dezember 1993 wegen dreifachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, Lars C. wird nach dem Jugendstrafrecht zu zehn Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass beide Angeklagte das Abbrennen der beiden Häuser nicht nur in Kauf genommen, sondern gewollt hätten. Beide Täter kommen nach wenigen Jahren wieder auf freien Fuß - vorzeitig. Lars C. wird 2000, Michael P. 2007 aus der Haft entlassen.

Verein gegen rechtsextremistische Auswüchse

Der Name Mölln wird seitdem immer mit den Anschlägen verbunden - und die Stadt geht offensiv mit diesem düsteren Kapitel ihrer Geschichte um. Eine Gedenktafel und ein Holzbalken mit stilisierten Flammen an der Wand des Brandhauses in der Mühlenstraße erinnern an das Drama. Das Gebäude trägt den Namen von Bahide Arslan. Bereits kurz nach den Anschlägen wird der Verein "Miteinander leben" gegründet, der sich zum Ziel gesetzt hat, das Zusammenleben von deutschen und ausländischen Mitbürgern in der Region zu verbessern. Außerdem will er Aufklärungsarbeit gegenüber rechtsextremistischen Auswüchsen betreiben und junge Menschen für eine demokratische Lebenseinstellung gewinnen.

Stadt Mölln engagiert sich für eine weltoffene Gesellschaft

Damit sich die Menschen wieder sicher fühlen können, ist die Stadt seit Langem um ein gutes Miteinander bemüht. Insbesondere über ein freundschaftliches Verhältnis zur türkischen Gemeinde versuche man, einen Beitrag für eine friedliche und weltoffene Gesellschaft zu leisten. "Vor allem die politisch Verantwortlichen sind sich dessen bewusst, dass wir hier eine besondere Verantwortung tragen. Solche schrecklichen Geschehnisse wie 1992 dürfen nicht wieder stattfinden, schon gar nicht in unserer Stadt", sagte Wiegels 2017 anlässlich des 25-jährigen Gedenkens der Opfer.

Kritik an Möllns Erinnerungspolitik

Kritik an der Erinnerungspolitik der Stadt gibt es allerdings von Ibrahim Arslan: "Die Stadt Mölln versucht, das Gedenken zur vereinnahmen", sagt der Überlebende des Brandanschlags im Interview mit dem NDR. Es sei nie gemeinsam mit den Betroffenen darüber nachgedacht worden, wie man mit dem offiziellen Gedenken umgehen soll. Seit 2013 organisiert er mit der "Möllner Rede im Exil" daher in verschiedenen Städten Gedenkveranstaltungen, die sich auch kritisch mit dem offiziellen Gedenken auseinandersetzen. Denn dass Betroffene nicht auch zu Gedenktagen dazugehören, sei auch in anderen Städten der Fall.

Arslan engagiert sich zudem in der antirassistischen Bildungsarbeit - und fragt sich 30 Jahre nach den Anschlägen in Mölln: "Warum muss ein Betroffener eines Anschlags eine vernünftige Gedenkkultur aufbauen, warum einen antifaschistischen Kampf führen? Weil wir uns gezwungen sehen, dazu beizutragen, dass so etwas nicht noch einmal passieren kann, dass der Tod unserer geliebten Menschen nicht einfach folgenlos bleiben darf. Deswegen machen wir immer weiter, müssen immer weitermachen. Wir, die Überlebenden, sind zum Überleben verurteilt."

Am 25. November 2023 zeichnet der Verein "Gegen Vergessen - Für Demokratie" Ibrahim Arslan mit einem Sonderpreis für sein außergewöhnliches Engagement aus. Arslan leiste mit seinen Vorträgen und Gesprächsrunden einen wertvollen Beitrag zur politischen Bildung junger Menschen, so die Begründung.

Opferfamilien sollen in Gedenken einbezogen werden

Die jahrelangen Forderungen betroffener Familien nach mehr Teilhabe an der Form des Gedenkens tragen spät erste Früchte: Zum 30. Jahrestag der Brandanschläge von Mölln verständigen sich Politiker und Hinterbliebene darauf, stärker zusammenzuarbeiten. Künftig sollen die Familien in die Ausrichtung des Gedenkens und in die Aufklärungsarbeit in Schulen einbezogen werden, sagt der Angehörige einer Opferfamilie, Faruk Arslan. Möllns Bürgermeister Ingo Schäper (SPD) versichert, dass er in Zukunft einen Weg gehen wolle, der die Interessen der Opfer und der Gesellschaft vereine. Auch Schleswig-Holsteins Sozialministerin Aminata Touré (Grüne) betont die Bedeutung der Opferperspektive bei der Aufklärung im Bildungsbereich.

Weitere Informationen
Ein Mann steht am 27. August 1992 vor brennenden Pkw auf einer Straße am Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen. © picture alliance / ZB Foto: Bernd Wüstneck

Rostock-Lichtenhagen: Wo sich der Fremdenhass entlud

Rechte werfen Brandsätze, Anwohner klatschen: Im August 1992 schockieren die Übergriffe auf Ausländer. Politik und Polizei sind überfordert. mehr

Vor dem gerahmten Bild des NSU-Opfers Süleyman Tasköprü liegen Rosen © picture alliance / dpa Foto: Axel Heimken

2001: Der NSU ermordet Süleyman Taşköprü in Hamburg

Der Gemüsehändler wurde am 27. Juni 2001 von Rechtsextremisten erschossen. Ein "Zufallsopfer"? Oder steckte mehr dahinter? mehr

25.02.2019, Mecklenburg-Vorpommern, Rostock: Ein Bild des NSU-Opfers Mehmet Turgut steht bei der Gedenkstunde am Todestag an der Gedenkstätte am Tatort. Mehmet Turgut wurde am 25.2.2004 in einem Imbiss in Rostock-Toitenwinkel vom NSU erschossen. © picture alliance/dpa Foto: Jens Büttner

Als der NSU Mehmet Turgut in Rostock ermordete

Mehmet Turgut wurde am 25. Februar 2004 in Rostock von der rechtsextremen Terrorgruppe NSU erschossen. Er war eher zufällig am Tatort. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 23.11.2022 | 18:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Zeitgeschichte

Rechtsextremismus

Mehr Geschichte

Der wegen Mordes angeklagte Hartmut M. (M.) trifft am 16.01.2007 im Landgericht in Würzburg (Unterfranken) zum Prozessbeginn ein. © picture alliance/dpa Foto: Daniel Karmann

Vor 20 Jahren: Shell-Erpresser "Garibaldi" wird gefasst

Der Erpresser forderte vier Millionen Euro von Shell in Hamburg. Am 24. November 2004 wurde er festgenommen. Der Mann ist auch ein Mörder. mehr

Norddeutsche Geschichte