Atom-Protest überschreitet 1983 Grenze zur DDR
Anfang Juli 1983: Zwei kleine Dörfer im niedersächsischen Wendland mit wenigen Dutzend Einwohnern sorgen dafür, dass zwischen Bonn und Ost-Berlin die Drähte heiß laufen: Blütlingen und Gummern. Eine deutsch-deutsche Krisensituation an der innerdeutschen Grenze - wegen zweier Sommercamps. Das Brisante an den Camps: Die Menschen zelten im sogenannten Niemandsland, dem Stück Land vor dem ersten Grenzzaun an der innerdeutschen Grenze, der aber schon zum Staatsgebiet der DDR gehört.
Atomprotest per Sommercamp
Sommercamps fanden in den 80er-Jahren regelmäßig im Landkreis Lüchow-Dannenberg statt, sie entstanden alle aus der Anti-Atom-Bewegung. Denn in dem Landkreis liegt der Ort Gorleben, der bis heute für Proteste gegen die Atomwirtschaft sorgt. Seit den 70er-Jahren wurden verschiedene Atomanlagen in dem Landkreis geplant und wieder verworfen, realisiert wurde ab 1982 in Zwischenlager für radioaktive Abfälle, zudem gibt es das Erkundungsbergwerk, den Salzstock Gorleben, das damals als möglicher Standort für ein Endlager gilt. Im Sommer 1983 fanden zudem Probebohrungen für die Errichtung einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage im Forst Dragahn statt.
Eingeschlossen von der DDR-Grenze
Im Sommer 1983 fragen sich die Bewohner des Wendlands: Was passiert mit uns, wenn es zu einem atomaren Unfall in Gorleben kommt? Denn Fluchtmöglichkeiten gibt es - zumindest für diejenigen, die östlich von Gorleben wohnen - nicht. Der Landkreis Lüchow-Dannenberg läuft im Osten wie eine Nase spitz zu und ist von drei Seiten von der ehemaligen Grenze der DDR und der Elbe umgeben. "Wir wollten auf unsere Situation aufmerksam machen. So entstand die Idee für das Camp", erklärt Atomkraftgegner Dieter Schaarschmidt.
Innerhalb weniger Tage entstehen zwei Lager an der innerdeutschen Grenze. Am 2. Juli 1983 wird das erste Camp nahe Blütlingen errichtet, ungefähr zehn Kilometer südöstlich von Lüchow. Brisanz erhält das Camp durch ein Denkmal, das in unmittelbarer Nähe auf westdeutscher Seite steht. Ein Gedenkkreuz erinnert an den DDR-Bürger Hans Franck, der 1973 beim Versuch, in den Westen zu flüchten, an der Grenze erschossen wurde.
Campen auf DDR-Gebiet
Ausgerüstet mit Zelten, Planen, Kochgeschirr und Brennholz machen sich am 5. Juli etwa 40 Menschen, darunter Dieter Schaarschmidt, zwischen Gartow und Schnackenburg auf den Weg in den Osten. In Gummern schlagen sie ihre Zelte auf. "Der Grenzverlauf verlief in einem Zickzackkurs, und es war kein Problem, auf das Gebiet vor dem ersten Zaun zu gehen", erläutert Schaarschmidt. Die Reaktionen lassen nicht lange auf sich warten. Auf der einen Seite stehen die DDR-Grenzer. "Sie haben uns immer wieder mit Megafonen aufgefordert, das Gebiet zu verlassen", so der Atomkraftgegner. Die Soldaten der NVA notieren akribisch, was in den Lagern vor sich geht.
"Die Gefahr war da"
Ungefährlich ist die Besetzung des Niemandslandes nicht. Die Soldaten der Nationalen Volksarmee hätten jederzeit durch geheime Grenzöffnungen zu den Campern gelangen und sie in den Osten verschleppen können. "Die Gefahr war da", so Schaarschmidt. Auch Marianne Fritzen, Atomkraftgegnerin der ersten Stunde im Wendland, bestätigt das. "Diese Gefahr musste jeder eingehen. Sie hätten den Zaun einfach aufmachen können oder schießen."
Der Bundesgrenzschutz zieht auf westlicher Seite auf, errichtet ebenfalls ein Camp. Viel kann er allerdings nicht ausrichten. Rechtlich gesehen sind ihm die Hände gebunden. Denn aus westdeutscher Sicht handelt es sich bei der DDR-Grenze nicht um eine Auslandsgrenze. Also können die Beamten auch niemanden daran hindern, die für sie rechtlich nicht-existente Grenze zu überschreiten.
Marianne Fritzen hat an dem Camp nicht aktiv teilgenommen, ist aber in den Tagen der Besetzung immer wieder vor Ort. "Wir sollten vermitteln. Aber bis auf ein einziges Mal haben sie uns gar nicht an die Besetzer herangelassen. Wie sollten wir denn da vermitteln?", fragt sie sich heute noch.
Versorgung aus umliegenden Dörfern
Die Demonstranten richten sich unterdessen häuslich ein. Bunte Transparente - "Keine Macht im Niemandsland" - sind über den Zelten gespannt. An Lagerfeuern wird diskutiert - normales Alltagsleben bei schönstem Sommerwetter in einem Zeltlager eben. Nur: Das Lager ist nicht normal. Eine nicht sichtbare, aber deutlich wahrnehmbare Grenze teilt Welten. In regelmäßigem Abstand stehen Warnhinweise des Bundesgrenzschutzes: "Halt. Hier Zonengrenze" oder "Achtung Lebensgefahr. Wirkungsbereich sowjetzonaler Minen", raten sie vom Betreten des Geländes ab.
In Blütlingen werden die Besatzer teilweise von den Bewohnern der umliegenden Dörfern versorgt. "An der Wiese führte ja ein Seitenarm der Jeetzel vorbei. Wir haben uns in Schlauchboote gesetzt und Lebensmittel darin transportiert", erzählt Hans-Joachim Kroulik. Er war in den Achtzigern Vorsitzender der Dorfgemeinschaft in Blütlingen.
"Pläne mussten vorhanden sein"
Doch auf die Forderungen, Einsicht in die Katastrophenpläne zu bekommen, reagiert die Politik nicht. "Eine befriedigende Antwort haben wir nie erhalten", erinnert sich Schaarschmidt. "Der Landkreis hat auch immer geleugnet, dass es Katastrophenpläne gibt", ergänzt Marianne Fritzen. "Ich habe anderes gehört. Irgendwelche Pläne hätten ja vorhanden sein müssen." Aber gesehen hat sie die nie - auch später nicht, als die politisch engagierte Frau als Abgeordnete im Kreistag sitzt.
Zelte stückchenweise in den Westen geschoben
Nach wenigen Tagen der Besetzung verlassen die Atomkraftgegner ihre Camps schließlich. Der deutsch-deutsche Konflikt war in den Mittelpunkt gerückt. Ihr Anliegen, die Einsicht in die Katastrophenpläne, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung kaum mehr eine Rolle. Daher geben die Zelter schließlich auf. Sie gehen wieder in den Westen zurück - lassen aber ihre Zelte auf dem Grenzgebiet stehen. "Die DDR-Soldaten haben dann die Zelte zusammengelegt und sie in den Westen geschoben. Sie durften ja nicht über die Grenze treten. Und der BGS durfte auch nicht auf die andere Seite treten. So haben sie die Zelte quasi millimeterweise in den Westen geschoben. Ein lächerliches Bild, das aber zugleich die ganze Brisanz zeigt, die dahintersteckte," erinnert sich Marianne Fritzen.
Grenzgraben ist heute mit Schilf zugewachsen
Heute erinnert an der Wiese bei Blütlingen nichts mehr an die Geschehnisse im Sommer 1983. Nur das Holzkreuz für Hans Franck steht noch da, umgeben von Resten des einstigen DDR-Grenzzauns. Rechts und links davon sind Wiesen und Äcker. Auch der Grenzgraben ist kaum noch zu erkennen. Er ist mit Schilf zugewachsen. Dass hier eine der bestbewachten Grenzen der Welt, ein Todesstreifen, verlief - davon ist nichts mehr übrig. Nur der Protest der Wendländer gegen die Atomanlagen in Gorleben ist geblieben - bis heute.