"Aktion Rose" und der Tod der Lieselotte Jess
1953 enteignet die DDR unter dem Namen "Aktion Rose" Hotels, Pensionen und Restaurants an der Ostsee. Auch die Familie Jess in Bad Doberan gehört damals zu den Betroffenen.
"Kleine, grüne Aale und guter Bohnenkaffee für die Gäste - das war ihr Verbrechen!", erinnert sich Emmy Bellon voller Zorn. Der Vertrieb von Aalen und Bohnenkaffee sind die "Gründe", warum ihre Mutter, die Gutsbesitzerin Lucie Jess, sowie ihre Schwestern Gertrud und Lieselotte im Frühjahr 1953 von der Volkspolizei verhaftet werden. Was folgt, sind Zwangsenteignung, Gefängnisaufenthalt und der qualvolle Tod der Lieselotte Jess.
Die "Aktion Rose"
Emmy Bellon ist die jüngste der vier Töchter von Lucie Jess, der Besitzerin des "Mecklenburger Hofes", eines Hotels in Bad Doberan. Lucie Jess' Mann ist bereits gestorben, ihre Tochter Leni ist nach Hamburg gezogen, Emmy lebt mit ihrem Mann in Frankreich. Die beiden anderen, Gertrud und Lieselotte, arbeiten mit im Hotel der Mutter - bis im Februar 1953 in den Ostseebadeorten mit der "Aktion Rose" die Großrazzia gegen die sogenannte "Strandbourgeoisie" beginnt, zu denen Hotel-, Ferienheim- und Restaurantbesitzer an der Ostseeküste gezählt werden. Auch das Hotel der Familie Jess bleibt nicht ausgespart. Akribisch und grob gehen die Volkspolizisten bei der Durchsuchung des "Mecklenburger Hofes" vor. Schließlich werden sie fündig: Sie stoßen auf Aale und Bohnenkaffee ohne Bezugsschein und in Gertruds Bücherschrank auf ein Exemplar von Adolf Hitlers "Mein Kampf" - und deklarieren dies als großen "Fahndungserfolg".
Die 70-jährige Lucie Jess und ihre beiden Töchter werden verhaftet und auf einem Lastwagen in das Gefängnis nach Bützow-Dreibergen gebracht. Ihre Bankkonten werden beschlagnahmt, der "Mecklenburger Hof" geht in den Besitz der Konsum-Genossenschaft über. Das Inventar des Hotels verschwindet. Selbst das Gedicht, das der mecklenburgische Dichter Rudolf Tarnow Ende der Zwanzigerjahre für die vier Schwestern Jess geschrieben hatte, fehlt seitdem.
Insulin wird beschlagnahmt - Lieselotte stirbt
Lieselotte ist Diabetikerin, sie braucht regelmäßig Insulin. Doch der kleine Vorrat, den sie bei der Verhaftung bei sich trägt, wird ihr abgenommen. Im Gefängnis verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand rapide. Lucie Jess darf sich nicht um ihre Tochter kümmern: "Ich sah Löding [Lieselotte] nur von Weitem, ich sah ihr schlaffes Fleisch auf den zarten Armen, als ich mich ihr nähern wollte, wurde ich in meine Zelle zurückgeschickt", schreibt Lucie Jess in einem der Briefe, die Emmy Bellon von Verwandten erhalten und sorgsam aufbewahrt hat. Am 16. April 1953 kommt es zur Gerichtsverhandlung. Innerhalb von fünf Minuten wird Lucie Jess zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, Gertrud sogar zu vier Jahren. Über Lieselotte sagt der Staatsanwalt nur: "Sie kann nicht verurteilt werden, da sie verstorben ist." So erfahren Lucie und Gertrud Jess offiziell vom Tod ihrer 47-jährigen Tochter und Schwester, die bereits am 4. April 1953 qualvoll gestorben ist.
Die Prozess-Akten sind heute verschwunden - und das, obwohl die Inhaftierung der Familie Jess damals im großen Stil juristisch und propagandistisch ausgewertet wurde. Nur im Abschlussbericht des Generalstaatsanwalts vom 2. Mai 1953 wird das "Strafverfahren gegen Lucie und Gertrud Jess" unter der Überschrift "Typische Fälle" dargestellt. Von Orgien, pornografischen Fotos, Hitler-Bildern und dem Horten von Lebensmitteln ist hier die Rede - doch die Beweise dafür fehlen bis heute.
Plötzliche Entlassung
Nach dem Tod von Lieselotte wird Lucie Jess überraschend entlassen. Emmy Bellon erzählt: "Meine Mutter war sehr herzleidend, schon als sie verhaftet wurde. Nach dem Tode von Lieselotte hat sich ihr Zustand zusehends verschlechtert. Die Gefängnisleitung musste mit einem zweiten Todesfall Jess rechnen. Da durfte sie plötzlich gehen, sogar ohne Entlassungspapiere. Man hat nur zu ihr gesagt: 'So, Frau Jess, jetzt können Sie nach Hause fahren!'" Aber Lucie Jess will zuerst wissen, was mit Lieselottes Leichnam passiert ist. Stundenlang sitzt sie vor der Tür des Gefängnisdirektors, bis sie erfährt, dass ihre Tochter im Rostocker Krematorium eingeäschert wurde. Lucie Jess erklärt, sie weiche erst von der Stelle, wenn sie schriftlich die Verfügung über die Urne der Tochter bekomme. Schließlich wird ihr Wunsch erfüllt. Am 16. August kann sie die Asche ihrer Tochter in Bad Doberan beisetzen. In der Zeitung werden Trauerfeier und Beisetzung mit keiner Silbe erwähnt.
Rückkehr nach Bad Doberan
Lucie Jess kehrt heim nach Bad Doberan, doch dort ist ihr Leben deprimierend: Der "Mecklenburger Hof" ist enteignet, das Restaurant jetzt eine volkseigene Gaststätte, die einstige Besitzerin darf das Hotel nicht betreten. Nachdem Lucie Jess beim Rathaus anfragt, erhält sie schließlich das vorläufige Bleiberecht in ihrer alten Wohnung im "Mecklenburger Hof". Von Freunden umsorgt, verlässt sie kaum noch ihr Zimmer. Sie wartet auf Gertrud, die immer noch im Gefängnis sitzt, obwohl sie schwer drüsenkrank ist. Lucie Jess hat Glück: Victor Schilling, einem befreundeten Arzt, gelingt es, Gertrud für eine ärztliche Behandlung nach Hause zu holen. Wieder vereint, wird Mutter und Tochter mehr und mehr klar, dass ihre Lage in Bad Doberan hoffnungslos ist. Bevor sie als Mieter aus dem "Mecklenburger Hof" geworfen werden, gehen sie lieber freiwillig. In einer Nacht Ende November 1953 fahren sie gemeinsam mit Lieselottes Dackel Heidi nach Berlin. Per S- und U-Bahn gelingt es ihnen, nach Westberlin und von dort aus per Flugzeug nach Hamburg zu entkommen.
Ein halber Tag in Freiheit
Doch Lucie Jess hat nur noch einen halben Tag in der neu gewonnenen Freiheit zu leben: Nach einem plötzlichen Ohnmachtsanfall stirbt sie in einer Hamburger Klinik an Herzversagen. "Meine Mutter hat ihre Freiheit nur gut einen Tag genießen können, aber ich denke mir immer: Sie hat in ihrem Leben alles geschafft, was sie schaffen wollte. Sie hat meine Schwester Lieselotte in unserem Familiengrab in Bad Doberan beerdigen können, sie hat meine Schwester Gertrud aus dem Gefängnis gekriegt, und sie hat es geschafft, in die Freiheit zu gelangen", sagt Emmy Bellon. Ihre Schwester Gertrud lebt nach der Flucht noch 15 Jahre in Hamburg, von Heimweh und Depressionen geplagt. Im Juli 1969 stirbt auch sie.
Der "Mecklenburger Hof" nach der Wende
Im Oktober 1990, die deutsche Wiedervereinigung ist noch keine Woche alt, reist Emmy Bellon nach Bad Doberan, denn ihre Sehnsucht nach der Ostsee ist groß. Das Familiengrab auf dem Kirchhof existiert nicht mehr, es wurde eingeebnet. Nur der "Mecklenburger Hof", er steht noch immer. Emmy Bellon, die Erbin und letzte Überlebende der Hoteliersfamilie Jess, erhält schließlich den Besitz zurück. Doch inzwischen hat die alte Dame das Gebäude verkauft. Sie will im südfranzösischen Levens bleiben. Und sie weiß, dass sie die Behauptung der noch lebenden Akteure der "Aktion Rose", im Rahmen der Aktion sei niemand ums Leben gekommen, widerlegen kann.