Eine V2-Rakete vor dem Abschuss, ca. 1944 © picture-alliance / Mary Evans Picture Library/WEIMA

1944: Angriff auf London mit V2-Raketen aus Peenemünde

Stand: 08.09.2024 23:59 Uhr

1944 beginnt im Zweiten Weltkrieg ein neues Zeitalter der Kriegsführung: Deutschland beschießt London mit Fernwaffen, erst mit V1- dann mit V2-Raketen. Erprobt wurden sie in Peenemünde auf der Insel Usedom.

von Dirk Hempel, NDR.de

Am 13. Juni 1944 beginnt ein neues Zeitalter der Kriegsführung: Deutschland beschießt London mit Fernwaffen. Erprobt wurden die sogenannten V1-Bomben in Peenemünde auf Usedom.

Am einem Dienstagmorgen werden die Menschen im Süden Englands von röhrenden Motorengeräuschen aus dem Schlaf gerissen. Ein längliches Flugobjekt mit Feuerschweif fliegt in der Morgendämmerung am Himmel. Plötzlich verstummt der Lärm, dann gleitet die fliegende Bombe zu Boden und explodiert. Mit 830 Kilogramm Sprengstoff bestückt schlägt sie einen Krater von sechs Metern Durchmesser, noch in 100 Metern Entfernung richtet sie Verwüstungen an. Insgesamt vier fliegende Bomben detonieren an diesem 13. Juni 1944. In London sterben sechs Menschen, Dutzende werden verletzt, zahlreiche Häuser beschädigt, eine Eisenbahnbrücke zerstört.

Marschflugkörper für den "Endsieg"

Deutsche Flaksoldaten haben die Bomben an der französischen Kanalküste gestartet: Es handelt sich um "Fieseler Fi 103", die ersten Marschflugkörper der Kriegsgeschichte - vor ihrem Einsatz monatelang getestet in Peenemünde auf der Insel Usedom. Besser bekannt als V1, "Vergeltungswaffe 1", wie sie bald in der NS-Propaganda heißt: "Vergeltung" an der britischen Zivilbevölkerung für die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte. Die erste jener sogenannten Wunderwaffen, die Hitler und Goebbels schon seit Langem ankündigen und mit denen sie im fünften Kriegsjahr das Blatt wenden und den "Endsieg" erringen wollen.

Erprobungsstelle Peenemünde

Der Startplatz der Fi 103. © HTM Peenemünde Foto: Johann Lühe
In Peenemünde wird die V1 erprobt. Die Alliierten fotografieren die Startrampe aus der Luft.

Seit den frühen 1930er-Jahren wird in Deutschland an Gleit-, Torpedo- und fliegenden Bomben gearbeitet, die im Gegensatz zu den fallenden Bomben Distanzen überwinden und mehr oder weniger ins Ziel gesteuert werden können. Neben Henschel in Berlin und Blohm + Voss in Hamburg arbeiten auch die Fieseler-Werke in Kassel an solchen Vorhaben. Denen erteilt das Reichsluftfahrtministerium im Juni 1942 den Auftrag, den Marschflugkörper "Fi 103" zur Serienreife zu entwickeln. Schon sechs Monate später wird er in der Erprobungsstelle der Luftwaffe Peenemünde-West auf Usedom zum ersten Mal gestartet - durch ein Katapult mit einer 48 Meter langen und am Ende sechs Meter hohen Abschussrampe, die nach ihrem Konstrukteur, dem Kieler U-Boot-Ingenieur Hellmuth Walter, Walter-Schleuder genannt wird.

Ein Zählwerk löst den Sinkflug aus

Die V1 hat eine Rumpflänge von 7,20 Metern, eine Flügelspannweite von über fünf Metern und wiegt 2,1 Tonnen. Angetrieben von einem Verpuffungs-Strahltriebwerk erreicht sie eine Höchstgeschwindigkeit von rund 640 Stundenkilometern. Die Reichweite beträgt etwa 240 Kilometer. Ein Zählwerk beendet beim Erreichen der voreingestellten Entfernung die Benzinzufuhr und kippt das Höhenruder, dann geht die Bombe in den Sinkflug über. Die Zielgenauigkeit liegt zwar nur bei zwölf Kilometern. In einer so großen Metropole wie London richten die Bomben dennoch verheerende Schäden an.

Britische Zeitungen melden Attacken "pilotenloser Flugzeuge"

Die britische Regierung ist nach dem Einschlag der ersten vier V1 am 13. Juni 1944 so verunsichert, dass sie Presseberichte über die fliegenden Bomben zunächst verbietet, um eine Panik in der Bevölkerung zu vermeiden. Erst nach Tagen melden die Zeitungen Attacken "pilotenloser Flugzeuge" auf Großbritannien. Da haben die Deutschen bereits den eigentlichen massierten Angriff mit fliegenden Bomben gestartet, der mehrere Wochen dauern soll. Schon am ersten Tag schlagen im Großraum der britischen Hauptstadt 73 V1 ein, die die Briten wegen ihres Fluggeräuschs bald "doodlebug" oder "buzz bomb" nennen.

Zerstörtes Haus im Londoner Stadtzentrum © HTM Peenemünde Foto: Johann Lühe
In London zerstören die V 1-Bomben zahlreiche Häuser.

Ein Londoner, dessen Haus bei den Angriffen zerstört wird, berichtet über die V1: "Als ich sie kommen sah, flog sie etwa 300 bis 400 Stundenkilometer in gut 600 Meter Höhe. Sie war nicht halb so lang wie ein Spitfire-Jagdflugzeug, hatte keinen Propeller und kein Leitwerk, verlor allmählich an Höhe. Meterlange Blitze kamen hinten aus dem Rumpf. Sie waren rötlich-gelb, wurden in Abständen von fünf Sekunden ausgespien. Gerade als sie über meinem Kopf war, ging ihre Maschine aus und die Blitze verschwanden. Sie flog einen Halbkreis, begann dann zu sinken und schlug durch das Dach eines Nachbarhauses. Wenige Sekunden später flog alles in die Luft."

Täglich schlagen bis zu 100 V1 ein

Ein Angehöriger des Zivilverteidigungskommandos beschreibt den gleichen Angriff von Mitte Juni 1944: "Zuerst hörte man ein tiefes Röhren, ein greller Blitz folgte, der Luftschutzwart sprang auf. Das Geschoss hatte die Kreuzung getroffen. Der Weg dorthin führte durch einen Alptraum aus Rauch und Staub. Die Straße war bedeckt mit Blättern, Glas und Trümmern. Verletzte und Unverletzte kamen herausgestürzt, verwirrt und fassungslos im trüben Dämmerlicht. Die Kreuzung war verwüstet. Vier große Häuser waren bis auf die Grundmauern zerstört, Dutzende andere beschädigt, und in den meisten befanden sich noch Menschen, denen geholfen werden musste."

Innerhalb einer Woche sterben in London Hunderte Menschen, werden Häuser, Straßen, Schienenwege zerstört. Ein zweiter "Blitz" - nach den monatelangen Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe von 1940/41 - hat begonnen. Ende Juni schlagen noch immer täglich 70 bis 100 V1-Bomben in London ein. Unter der Bevölkerung verbreiten sich Angst und Schrecken.

Auch Belgien wird beschossen

Bis März 1945 feuern die Deutschen rund 10.500 Marschflugkörper auf Ziele in England ab, nach dem Rückzug aus Frankreich im September 1944 auch von Holland und Deutschland aus. Hunderte V1 werden von Heinkel-Bombern in der Luft abgesetzt. Die meisten sind auf London gerichtet, aber auch auf Manchester, Southampton und Gloucester. Am Ende des Krieges gerät Belgien ins Visier der Marschflugkörper: Insgesamt 11.892 V1-Bomben werden noch auf den alliierten Nachschubhafen Antwerpen, auf Brüssel und Lüttich gerichtet.

US-Kriegskorrespondent Hemingway berichtet

Zerstörte V1-Abschussrampe in Frankreich © HTM Peenemünde Foto: Johann Lühe
Flaksoldaten starten die V1 in Nordfrankreich, britische Bomber zerstören die Abschussrampen.

Die Briten, die schon im Vorjahr versucht hatten, Peenemünde zu zerstören, ergreifen noch im Sommer 1944 Gegenmaßnahmen, die bald Wirkung zeigen und etwa ein Drittel der Marschflugkörper unschädlich machen: Weil die V1 nicht schneller als ein Flugzeug fliegt, kann sie von Flugabwehrkanonen oder Jagdfliegern abgeschossen werden, zudem halten an Stahlseilen befestigte Fesselballons Hunderte Bomben auf. Auch werden die V1-Abschussrampen in Nordfrankreich bombardiert. US-Kriegskorrespondent Ernest Hemingway, der bei einem dieser Angriffe mitfliegt, berichtet seinen amerikanischen Lesern in einem Artikel davon.

Gegen die Abwehr setzen die NS-Ingenieure auf neue V1-Modelle, die torkelnde Flugbewegungen ausführen, um der gegnerischen Flak zu entgehen. Auf einem Schießplatz bei Cuxhaven werden sie erprobt und über die Nordsee gestartet. Noch im Jahr 2003 werden dort bei der Insel Neuwerk Reste einer V1 aus dem Watt geborgen.

Raketen aus Peenemünde

Start einer "V2"-Rakete © picture alliance / akg-images
Die erste Rakete erfüllt einen Menschheitstraum - aber sie bringt Tod und Verderben: Start einer V2 in Peenemünde.

Außerdem haben Hitlers Ingenieure inzwischen eine noch fürchterlichere Waffe zum Einsatz gebracht: das Aggregat 4, bald als V2 bezeichnet. Die erste funktionsfähige Großrakete der Welt ist sogar ganz auf Usedom entwickelt worden, ab 1939 in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde-Ost unter der Leitung von Wernher von Braun.

Sie braucht für die Strecke nach London nur fünf Minuten und schlägt mit knapp 5.500 Stundenkilometern ein. Ihr Kommen ist wegen der Überschallgeschwindigkeit vor der Explosion nicht zu hören. Unmöglich, dagegen Abwehrmaßnahmen zu ergreifen. Die britische Bevölkerung ist schockiert. Die Deutschen hingegen wähnen sich für kurze Zeit endlich wieder im Kriegsglück. Die "A 9/10", eine bereits in Peenemünde geplante Interkontinentalrakete mit 5.000 Kilometern Reichweite, die New York angreifen soll, wird jedoch nicht mehr gebaut.

V2 auf London und Antwerpen

Nach der Hauptangriffswelle mit V1-Bomben im Sommer 1944 wird London ab September auch mit V2-Raketen beschossen. Die ersten Angriffe erfolgen in der Nacht vom 7. auf den 8. September. Später folgen auch Städte in Belgien, Frankreich und Holland als Ziele. Bis Kriegsende werden mehr als 3.170 Raketen abgefeuert, gut die Hälfte auf den alliierten Nachschubhafen Antwerpen, 1.300 auf die britische Hauptstadt.

Die zerstörte Stratford Street in London nach dem Einschlag einer deutschen "V2"-Rakete (1945). © picture-alliance
Sie schlägt lautlos ein: In London (Foto) und Antwerpen fürchten die Menschen den V2-Beschuss.

Die materiellen Schäden durch den Beschuss mit V1 und V2 in Großbritannien und Belgien sind außerordentlich groß. In London werden 29.000 Häuser zerstört und über 1,2 Millionen beschädigt. Die Kosten für den Wiederaufbau schätzen die Briten auf mindestens 25 Millionen Pfund. In Belgien zerstören die Fernwaffen fast 5.700 Häuser und beschädigen rund 167.000 Gebäude. Insgesamt töten die fliegenden Bomben und Raketen mehr als 15.000 Menschen, rund 47.000 werden verletzt.

20.000 Zwangsarbeiter sterben bei der Produktion

Noch höher aber liegen die Zahlen der Opfer unter den Zwangsarbeitern, die diese Fernwaffen in Rüstungsfabriken wie dem Wolfsburger Volkswagenwerk und dem unterirdischen Mittelwerk im Harz bauen müssen. In dem dortigen KZ Mittelbau-Dora sind bis Kriegsende 60.000 Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert, mindestens 20.000 kommen zu Tode.

Von der Ostsee nach Cape Canaveral

Nach der Kapitulation werden die deutschen Bomben- und Raketeningenieure von den Alliierten gefangen genommen. Nach Blindgängerfunden in England arbeiten sie bereits seit Monaten mit Hochdruck an Kopien der V1. Schon im Herbst 1945 führen die Briten dann in Cuxhaven, wohin Peenemünder Spezialisten kurz vor Kriegsende vor den anrückenden Sowjets verlegt worden waren, Startversuche mit V2-Raketen durch. In den USA arbeiten später Hunderte von Wissenschaftlern aus Peenemünde um Wernher von Braun am Weltraumprogramm der NASA mit, das 1969 zur Mondlandung führt.

Auch im militärischen Bereich erhalten V1 und V2 Nachfolger: Mittel- und Langstreckenraketen, die seit den 1950er-Jahren in den USA und der Sowjetunion entwickelt werden und noch heute, etwa im Irak-Krieg, eine große Rolle spielen, sowie unbemannte Flugobjekte wie die zur Luftaufklärung und Spionage dienenden Drohnen.

Gedenkstätten erinnern an die Verbrechen

An die technische Neuerung der Fernwaffen, vor allem aber an die Opfer der Angriffe wie der unmenschlichen Produktionsbedingungen erinnern heute Museen in Peenemünde und in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora im Harz.

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Dieses Thema im Programm:

21.07.2004 | 23:05 Uhr

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