Stand: 03.05.2015 08:33 Uhr

Wie ein Hamburger Junge das Kriegsende erlebte

Als am 3. Mai 1945 Hamburg im Zweiten Weltkrieg kapituliert, ist Manfred Holzenburg elf Jahre alt. An das Kriegsende erinnert er sich noch deutlich. "Meine Mutter und ich wohnten damals bei meiner Großmutter in Ohlsdorf, weil wir ausgebombt worden waren", erzählt der heute 81-Jährige. Nachdem die Alliierten ein Ausgehverbot verhängt haben, sitzt der Junge am Küchenfenster und schaut nach draußen. Plötzlich fährt auf der menschenleeren Rübenhofstraße jemand mit dem Rad vor. "Vati kommt!", ruft der kleine Manfred - seine Mutter sagt nur: "Du spinnst". Doch tatsächlich: Bei dem Radler handelt es sich um Wilhelm Holzenburg, der nach mehreren Jahren Stationierung im französischen Metz nach Hause kommt. "Er hat plattdeutsch gesprochen und sich gegenüber den Engländern als Holländer ausgegeben, nur deshalb hat er es bis zu uns geschafft", erklärt Holzenburg.

"Zum Schluss mehr im Bunker als anderswo"

So bedeutet die Kapitulation für die Familie gleich doppelte Erleichterung: Zum einen wegen des heimgekehrten Vaters, zum anderen weil die Holzenburgs das Ende der ständigen Angst vor Bomben und Zerstörung schon lange herbeigesehnt haben - wie die meisten anderen Hamburger. "Zum Schluss waren wir ja mehr im Bunker als anderswo", sagt Manfred Holzenburg.

Der pensionierte Elektroinstallateur-Meister sitzt auf dem dunkelbraunen Ledersofa seiner Wohnung in Niendorf-Nord. Auf dem gekachelten Tisch vor ihm liegen zwei stark vergilbte, zusammengefaltete Dokumente, die er nacheinander behutsam auseinanderbreitet: Die Bekanntmachtung der Kapitulation durch die Besatzungsmacht - und eine von Gauleiter Karl Kaufmann unterzeichnete Extra-Ausgabe der "Hamburger Zeitung" vom 3. Mai 1945: Die offizielle Kapitulationserklärung. "Diese Plakate hingen ja damals überall in der Stadt - meine Mutter hat sie aufbewahrt."

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Kurz und nüchtern liest sich der Aufruf der Besatzer an die Hamburger, sich ab 13 Uhr nur noch drinnen aufzuhalten, weil dann der Einmarsch der Truppen beginne. "Bei Nichtbefolgung wird die Besatzungsmacht mit Waffengewalt einschreiten."

Die Erklärung von Gauleiter Kaufmann, die er auch in einer Radioansprache verkündet, versucht hingegen, auch die Niederlage noch mit Nazi-Kriegspropaganda zu überformen: "Nach heldenhaftem Kampf, nach unermüdlicher Arbeit für den deutschen Sieg und unter grenzenlosen Opfern ist unser Volk dem an Zahl und Material überlegenen Feind ehrenvoll unterlegen", heißt es pathetisch. "Unerschütterlich haben die Hamburger an der Front und in der Heimat ihre Pflicht erfüllt."

Mutter schreibt Erinnerungen an "Hamburgs letzte Tage"

Dass Manfred Holzenburgs Mutter Irma - wie wohl viele andere Einwohner der Hansestadt - zu diesem Zeitpunkt das Kriegsende bereits erwartet hat, davon zeugt ein von ihr mit blauer Tinte eng beschriebenes kariertes Blatt. Holzenburg zieht es aus einem Umschlag mit alten Dokumenten und Fotos. "Das habe ich in ihren Unterlagen gefunden, nachdem sie gestorben ist." Unter der Überschrift "Hamburgs letzte Tage" beschreibt Irma Holzenburg die Zeit der Kapitulation in der Hansestadt. "Ich vermute, es ist eine Art Tagebuch oder sie hat ihre Erinnerungen später aufgeschrieben - leider konnte ich sie nicht mehr fragen", bedauert ihr Sohn Manfred. Hier die Notizen seiner Mutter im Wortlaut:

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21.30 Uhr: Zum drittenmal zerreißt das Tacken des Drahtfunkweckers den Abgesang des Regimes: Götterdämmerungs-Musik. Panne am Schalttisch. Ohne die Effektkulisse makabrer Trommelwirbel überfällt Dönitz mit gehetzter Stimme die Menschen am Lautsprecher. Überfällt sie mit der letzten Lüge. Das deutsche Volk registriert die "Heldennot" des Führers. Aber das worauf alle warten, dieses eine Wort bleibt aus. Nicht Kapitulation - der Kampf geht weiter.

"Granatsplitter getauscht wie Briefmarken"

Wenn Manfred Holzenburg an den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach zurückdenkt, erinnert er sich vor allem daran, wie sich alles darum drehte, das Überleben zu sichern. "Wir Kinder haben geklaut wie die Raben." Bevor ihre Wohnung in Barmbek ausgebombt worden sei, habe seine Mutter dort sechs Kaninchen gehalten. "Und wenn die Kontrolleure kamen, haben wir die schnell im Bett versteckt, damit die uns die Lebensmittelration nicht kürzten." In den Trümmern hätten er und seine Freunde "Granatsplitter gesammelt und getauscht wie Briefmarken." Nach Kriegsende spielen sie mit liegen gebliebener Munition - "Ich kenn so manchen, der dabei seine Hand oder Finger verloren hat."

Aus Trümmern Untersetzer gebastelt

Aber der Junge und seine Freunde erweisen sich im Nachkriegshamburg auch als erfinderisch. Sie suchen in den Trümmern nach Kacheln, klopfen sie frei und kleben Korkenstücke darunter - fertig sind die Untersetzer. "Für einen Groschen haben wir die verkauft - und sie gingen weg wie warme Semmeln." Das Verhältnis zu den Alliierten sei gut gewesen, berichtet Holzenburg. "Wir haben für die Tommys Laufburschen gespielt und ihnen Sachen auf dem Schwarzmarkt besorgt."

"Unbeschreibliches Glück gehabt"

An eine Szene erinnert er sich noch besonders gut: Der Elfjährige steht mit einigen britischen Soldaten zusammen, als plötzlich ein Besatzungsfahrzeug vorfährt. Die Tür öffnet sich - und zwei von Holzenburgs Onkeln steigen aus. Sie sind aus der Kriegsgefangenschaft in Kanada entlassen worden und auf dem Heimweg "rein zufällig" an Manfred Holzenburg vorbeigekommen. "Da konnte ich meiner Großmutter ihre beiden Söhne zurückbringen." Es erfülle ihn bis heute mit Demut, wenn er daran denke, dass Millionen Menschen den Krieg und das Nazi-Regime nicht überlebt haben. "Wir haben unbeschreibliches Glück gehabt."

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Unsere Geschichte | 23.04.2015 | 20:15 Uhr

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