"Weigerung hätte keine großen Nachteile gebracht"
Beihilfe zum Mord in 260.000 Fällen, Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen: Das Ausmaß der aktuell verhandelten Vorwürfe gegen mutmaßliche NS-Helfer wirft noch einmal ein Licht auf die Dimension nationalsozialistischer Verbrechen. Allein in Auschwitz ermordeten die Nazis mindestens 1,1 Millionen Menschen. Und auch 71 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers ist die juristische Aufarbeitung nicht bewältigt. Die letzten noch lebenden Helfer beim Holocaust sollen nun zur Rechenschaft gezogen werden. Maßgeblich daran beteiligt ist die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen im baden-württembergischen Ludwigsburg. Wir haben den Leitenden Oberstaatsanwalt Jens Rommel gefragt, warum gerade jetzt so viele Prozesse anstehen.
Teilweise sind die Vorwürfe doch schon länger bekannt. Wie kommt es, dass erst jetzt die mutmaßlichen Täter vor Gericht kommen?
Jens Rommel: Seit dem Prozess gegen John Demjanjuk haben wir ein Urteil, in dem der Beitrag der Gehilfen anders gewertet wird als noch in den 1960er-Jahren. Es war zwar damals schon der Versuch unternommen worden, auch Unterstützungspersonal vor Gericht zu bringen. 1969 war aber der Bundesgerichtshof noch zu der Entscheidung gekommen, dass nicht jeder, der in einer Wachmannschaft eingesetzt war, für das Vernichtungsprogramm in einem KZ verantwortlich ist.
Strafbar konnte es nur sein, wenn jemand an einem Mord konkret beteiligt war. Das führte dazu, dass die Staatsanwaltschaften Verfahren einstellten. Das änderte sich mit dem Demjanjuk-Urteil. Im vergangenen Jahr wurde die neue Auffassung dann vom Landgericht Lüneburg im Fall Gröning bestätigt: Dort wurde festgestellt, dass jede Handlung eines Gehilfen, die die Gesamttat erleichtert, für eine Verurteilung wegen Beihilfe ausreichend ist. Es ist nicht nötig, dass die Unterstützung für einen konkreten Mord nachgewiesen wird.
Was passierte nach dem Münchner Demjanjuk-Urteil im Jahr 2012?
Rommel: Danach haben wir noch einmal die Vorwürfe gegen Mitglieder von KZ-Wachmannschaften überprüft und eine Liste von 30 Personen erstellt und an die zuständigen Staatsanwaltschaften gegeben. Das erste dieser Verfahren war dann das gegen Oskar Gröning.
Manchmal wird kritisiert, dass jetzt nur noch die "kleinen Lichter" der SS vor Gericht gestellt würden ...
Rommel: Man kann mit Sicherheit sagen, dass die Personen, um die es heute geht, nicht Haupttäter oder Hauptschuldige sind. Aber die Nazi-Verbrechen sind staatlich-bürokratisch abgelaufen und waren "arbeitsteilig" organisiert. Sie haben nur funktioniert, weil viele Personen beteiligt waren und ihren - wenn auch vielleicht kleinen - Beitrag geleistet haben.
Mussten die Menschen, die in den KZs für die SS arbeiteten, um ihr Leben fürchten, wenn sie sich weigerten?
Rommel: Nein. Es ist kein Fall bekannt, in dem sich jemand bei einer Weigerung mitzumachen, persönliche schwerwiegende Nachteile eingehandelt hätte. "Ich wär' doch sonst erschossen worden", lautet manchmal der Hinweis auf den Notstandsgedanken. Aber dafür gibt es keine Anhaltspunkte.
Sind die bundesweit derzeit vier Anklagen gegen mutmaßliche Nazi-Helfer denn jetzt die letzten oder kommen noch mehr?
Rommel: Es hängt sehr vom BGH-Urteil im Fall Gröning ab, wie weit wir den Kreis ziehen können. Von unserer Liste nach dem Demjanjuk-Urteil liegen noch etwa ein halbes Dutzend Fälle bei den Staatsanwaltschaften, die jetzt unter anderem die Verhandlungsfähigkeit der Beschuldigten prüfen. Unsere Behörde verfolgt allerdings noch einen anderen Ansatz: Die Auswertung von Prozessen, die die Sowjetunion gegen deutsche Kriegsgefangene geführt hat. Wir haben geprüft, ob daraus Anhaltspunkte gegen andere Deutsche zu ziehen sind. Daraus sind auch noch einige Verfahren anhängig. Aber dabei sind Hauptverfahren vor Gericht eher unwahrscheinlich, weil das Beweismaterial sehr dünn ist.
Können Sie mit Ihrer Arbeit denn noch etwas zur historischen Wahrheitsfindung hinzufügen oder ist das nur noch juristisches Klein-Klein?
Rommel: Es ist der juristische Beitrag zur Aufklärung der NS-Taten. Es sind zwar meist nur noch die Unterstützer, aber die Taten sind so gewaltig - das ist sicher mehr als juristisches Klein-Klein. Wir leisten mittelbar einen Beitrag für die historische Forschung über NS-Täter. Und wir halten mit unserer Arbeit auch die Erinnerung an die Taten wach.
Sie sind seit 2015 Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen. Was bedeutet Ihr Job für Sie persönlich?
Rommel: Ich musste mir tatsächlich ein paar Tage lang überlegen, ob ich die Stelle übernehmen möchte. Das hängt zum Einen mit den immer schwieriger werdenden Ermittlungen zusammen und damit, dass man damit leben muss, das Prozesse von Jahr zu Jahr unwahrscheinlicher werden. Andererseits handelt es sich um Verbrechen fast unvorstellbaren Ausmaßes, die mich auch bei einer nüchternen juristischen Herangehensweise stark berühren. Für mich selbst ist aber auch wichtig, dass der heutige deutsche Staat mit seiner Justiz alles versucht, die damals staatlich organisierten oder geduldeten Morde aufzuklären.
In einem anderen Interview haben Sie gesagt, Sie wollten nicht "Nazi-Jäger" genannt werden - was stört Sie an diesem Begriff?
Rommel: Ich denke bei Jägern an das Erlegen einer Beute oder dass man sich eine Trophäe an die Wand hängen möchte. Schon mein Vorgänger hat darauf hingewiesen, dass es unsere Aufgabe ist, Morde aufzuklären. Aber ich verstehe natürlich, dass es eine sehr griffige Bezeichnung ist und sich auch hervorragend für eine Schlagzeile eignet.
Das Interview führte Oliver Diedrich, NDR.de