Vier Jahre Haft für Gröning im Auschwitz-Prozess
Schuldspruch für Oskar Gröning: Das Landgericht Lüneburg hat den 94-jährigen früheren SS-Mann heute der Beihilfe zum Mord in mehr als 300.000 Fällen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau für schuldig befunden. Es sei die eigene Entscheidung des Angeklagten gewesen, in Auschwitz Dienst zu tun. Mit einem Strafmaß von vier Jahren Haft ging die Kammer unter Vorsitz von Richter Franz Kompisch noch über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus. Die hatte auf dreieinhalb Jahre Haft plädiert. Die Nebenkläger und der Zentralrat der Juden in Deutschland begrüßten den Schuldspruch. "Das war sehr wichtig, weil damit ein NS-Täter zur Rechenschaft gezogen wurde", sagte Zentralratspräsident Josef Schuster in Berlin. Ob Gröning seine Strafe antreten muss, ist allerdings noch unklar. Das wird die Staatsanwaltschaft prüfen, wenn das Urteil rechtskräftig ist.
Zentralrat der Juden: Verbrechen noch einmal vor Augen geführt
Das Verfahren hat der deutschen Gesellschaft laut Schuster noch einmal die Verbrechen der Schoah vor Augen geführt und gezeigt, dass die Opfer noch Jahrzehnte später unter den Folgen leiden. "Für unseren Umgang mit der deutschen Vergangenheit hat damit der Prozess einen wichtigen Beitrag geleistet", so Schuster weiter. Für die Opfer und ihre Angehörigen habe die Verurteilung eine hohe Bedeutung. Auch das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem teilte mit, dass "dieser Fall sehr, sehr wichtig für uns" ist. Der Schuldspruch für Gröning sei "wohlverdient". "Wir hoffen, dass dies die deutschen Behörden ermutigen wird, weitere Fälle zu verfolgen", sagte Leiter Efraim Zuroff. Er habe bei seiner Arbeit viele Enttäuschungen erlebt.
Nebenkläger sprechen von "Genugtuung"
Ähnlich positiv reagierte auch die Nebenklage auf das Urteil: "Es erfüllt uns mit Genugtuung, dass nunmehr auch die Täter Zeit ihres Lebens nicht vor einer Strafverfolgung sicher sein können", teilte Anwalt Thomas Walther im Namen der Nebenkläger mit. "SS-Angehörige wie Gröning, die bei der Ermordung unserer Familien mitgewirkt haben, haben uns lebenslanges und unerträgliches Leid zugefügt", erklärten diese. Das Urteil sei ein später Schritt hin zur Gerechtigkeit. Erstmals habe sich in einem Prozess um NS-Verbrechen ein Angeklagter zu seiner Schuld bekannt und sich dafür entschuldigt.
Richter: "Man kann auch nach 70 Jahren Gerechtigkeit schaffen"
In seiner Urteilsbegründung sagte Richter Kompisch, dass Grönings Entscheidung für den Dienst in Auschwitz "sicherlich aus der Zeit heraus bedingt, aber nicht unfrei" gewesen sei. Dem damaligen SS-Mann sei es lieber gewesen, dort zu sein als an der Front. "Ich will Sie hier nicht als feige bezeichnen, Herr Gröning, aber Sie haben sich hier für den sicheren Schreibtischjob entschieden." Kompisch ging zudem auf die Frage ein, ob ein Prozess so viele Jahrzehnte nach dem Holocaust noch sinnvoll ist: "Man kann auch nach 70 Jahren Gerechtigkeit schaffen. Man kann hier ein Urteil finden. Man muss es auch", betonte er.
Wichtige Zitate aus dem Prozess
Gröning: "Ich bereue aufrichtig"
Gröning nahm das Urteil Beobachtern zufolge zumindest äußerlich ungerührt hin. Vor dessen Bekanntgabe hatte der 94-Jährige in seinem Schlusswort gesagt: "Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte, hat Professor Nestler (Vertreter der Nebenklage, d. Red.) hier gesagt. Das ist mir bewusst", so Gröning. "Ich bereue aufrichtig, dass ich diese Erkenntnis nicht viel früher und konsequenter umgesetzt habe." Im Zuge der sogenannten Ungarn-Aktion soll er im Frühjahr 1944 Spuren der Massentötung an ungarischen Juden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verwischt haben, indem er half, an der berüchtigten Rampe Gepäck und das darin enthaltene Vermögen der Verschleppten wegzuschaffen.
Angeklagter bestritt direkte Beteiligung an Morden
Zu Prozessbeginn hatte Gröning eine moralische Mitschuld eingeräumt. Außerdem gab er vor Gericht zu, in Auschwitz Geld aus dem Gepäck von Juden genommen und an das Wirtschaftsverwaltungshauptamt der Schutzstaffel (SS) in Berlin weitergeleitet zu haben. Später ließ er in einer Mitteilung erklären, dass durch seine Tätigkeit das "System Auschwitz" habe funktionieren können. Eine direkte Beteiligung an den Morden stritt er allerdings ab.
Ist Gröning überhaupt haftfähig?
Ob Gröning seine Strafe überhaupt absitzen muss, ist allerdings unklar. Erst wenn das Urteil rechtskräftig ist, wird von der Justiz geprüft, ob der gesundheitlich angeschlagene 94-Jährige in Haft muss. Zudem muss Gröning die Kosten des Verfahrens und die Auslagen für die Nebenklage tragen. Möglicherweise gehen Staatsanwaltschaft und Verteidigung auch in Revision. "Wir werden das Urteil jetzt erst mal prüfen", sagte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Hannover, Kathrin Söfker. Dasselbe kündigte auch Grönings Anwalt Hans Holtermann an. "Darüber sprechen wir noch mit Herrn Gröning", so Holtermann. Er hatte für seinen Mandanten einen Freispruch gefordert.
Viele Fragen bleiben - auch nach einem Urteil
Der Prozess gegen den 94-jährigen Gröning wird vermutlich einer der letzten zu den Gräueltaten im Konzentrationslager Auschwitz gewesen sein. 70 Jahre sind seit dem Kriegsende und dem Ende der NS-Herrschaft vergangen. Dabei war der Verdacht gegen Gröning nicht neu - im Gegenteil: Bereits in den 1970er-Jahren hatte es Ermittlungen gegen ihn gegeben, das Verfahren war später eingestellt worden. Eine Wiederaufnahme, sagte Verteidigerin Susanne Frangenberg am Dienstag vor Gericht, sei danach wiederholt abgelehnt worden. Nach dem Prozess in Lüneburg bleiben allerdings viele Fragen offen: vor allem die nach dem Umgang der deutschen Justiz mit mutmaßlichen NS-Tätern nach 1945.