Auschwitz: Letzte KZ-Helfer kommen vor Gericht
Am 27. Januar 1945 nahmen Soldaten der Sowjetarmee das NS-Konzentrationslager Auschwitz ein und befreiten die überlebenden Gefangenen. Der Tag wird international als Holocaust-Gedenktag begangen. Doch auch 71 Jahre nach der Auschwitz-Befreiung ist die juristische Aufarbeitung des Massenmordes an Juden, Sinti und Roma, Kriegsgefangenen und anderen Nazi-Opfern nicht bewältigt. Die letzten noch lebenden mutmaßlichen Helfer der SS sollen zur Rechenschaft gezogen werden. Allein in Norddeutschland geht es zurzeit um drei Fälle im Zusammenhang mit den Auschwitz-Verbrechen. In dem Lager im ehemals besetzten Polen hatten die Nazis mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet.
In Schleswig-Holstein geht es aktuell um den Fall einer inzwischen 92-jährigen Frau aus Neumünster. Sie soll von Ende April bis Anfang Juli 1944 als Funkerin der Kommandantur in Auschwitz beim Juden-Mord geholfen haben. Sie war zur Tatzeit noch Heranwachsende, daher ist für den möglichen Prozess die Jugendkammer zuständig. Nun teilte das Kieler Landgericht mit, dass das Hauptverfahren gegen Helma M. vorerst nicht eröffnet werde. Ein Gutachter sei zu dem Ergebnis gekommen, dass sie vorläufig nicht verhandlungsfähig sei. Frühestens nach drei Monaten könne die Seniorin erneut untersucht werden, "um zu klären, ob der Zustand dauerhaft oder vorübergehend ist", sagte eine Gerichtssprecherin. Die Kammer werde nun über das weitere Vorgehen entscheiden.
Prozesse gegen mutmaßliche SS-Helfer häufen sich
Die Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig geht davon aus, dass es einen hinreichenden Tatverdacht gegen Helma M. wegen Beihilfe zum Mord gibt. Sie selbst sagte in einer früheren Vernehmung: "Ich hatte niemals Gelegenheit, das mindeste Verbrechen zu begehen, denn ich habe nur am Funkgerät gesessen", wie die "tageszeitung" zitierte. Prozesse gegen SS-Helfer, denen wohl keine direkte Beteiligung an Mordfällen nachgewiesen werden kann, sondern lediglich eine allgemeine Beteiligung am "Mordsystem Auschwitz", häufen sich zurzeit. Früher hätte es in solchen Fällen wenig Aussicht auf eine Verurteilung gegeben. Doch die Rechtsprechung hat sich geändert, wie Oberstaatsanwalt Jens Rommel von der Zentralen Stelle zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen NDR.de sagte: "Seit dem Prozess gegen John Demjanjuk wird der Beitrag der Gehilfen anders gewertet."
Diese neue Auffassung sei zuletzt vom Landgericht Lüneburg im Fall Gröning bestätigt worden, so Rommel: "Dort wurde festgestellt, dass jede Handlung eines Gehilfen, die die Gesamttat erleichtert, für eine Verurteilung wegen Beihilfe ausreichend ist." Beim Landgericht Kiel meldeten sich für die mögliche Eröffnung der Hauptverhandlung gegen Helma M. bereits mehrere potenzielle Nebenkläger - Überlebende oder Angehörige von Opfern des Lagers Auschwitz.
Neubrandenburg: Früherer SS-Sanitäter angeklagt
Im zweiten norddeutschen Fall geht es um den 95-jährigen Hubert Z. aus Mecklenburg-Vorpommern. Er war SS-Sanitäter in Auschwitz. Ein Prozess gegen ihn wegen Beihilfe zum Mord in 3.681 Fällen sollte Ende Februar vor dem Landgericht Neubrandenburg beginnen. Der Start musste aber verschoben werden, weil der Beschuldigte wegen gesundheitlicher Probleme nicht verhandlungsfähig war. Er soll 1944 einen Monat lang in der SS-Sanitätsdienststaffel Auschwitz-Birkenau als Unterscharführer tätig gewesen sein. Laut Anklage der Staatsanwaltschaft Schwerin wusste er, dass es sich um ein Vernichtungslager handelte. Er sei als Sanitäter dabei gewesen, als mindestens 14 Züge mit Deportierten ankamen. Unter ihnen soll auch Anne Frank gewesen sein, Verfasserin der bekannten Tagebücher, die später im KZ Bergen-Belsen starb.
Prozess gegen Hubert Z. soll nun Mitte Mai beginnen
Da sich Hubert Z. "in die Lagerorganisation unterstützend" eingefügt habe, habe er an der Vernichtung in Auschwitz-Birkenau mitgewirkt und diese befördert, argumentiert die Staatsanwaltschaft. Die Verteidigung bestreitet dies.
Inzwischen teilte das Landgericht Neubrandenburg mit, dass der Prozess gegen Hubert Z. am 17. Mai neu angesetzt sei. Bis dahin soll die gerichtlich angeordnete Untersuchung des 95-Jährigen abgeschlossen sein. Von dem Ergebnis der umfassenden medizinischen Untersuchung hängt laut Gericht der weitere Prozessverlauf ab.
Auch Verfahren in Neubrandenburg umstritten
Auch im Fall Hubert Z. war eine Anklage lange umstritten. Die Schweriner Staatsanwaltschaft hatte im Oktober 2013 von Rommels Behörde Hinweise auf die Vergangenheit des Mannes erhalten. Mitte 2015 hatte das Landgericht Neubrandenburg noch von der Eröffnung eines Verfahrens abgesehen. Der Mann sei an Altersdemenz erkrankt, die bei ihm zu starken kognitiven Einschränkungen führe. Dagegen hatte die Generalstaatsanwaltschaft jedoch Rechtsmittel eingelegt und sich schließlich durchgesetzt.
Hubert Z. war 1948 bereits von einem polnischen Gericht wegen seiner SS-Zugehörigkeit zu mehr als drei Jahren Haft verurteilt worden, die er auch verbüßte. Danach kehrte er in den damaligen DDR-Bezirk Neubrandenburg zurück. Er arbeitete dort in der Landwirtschaft. Im Zuge der neuen Ermittlungen kam Hubert Z. im Frühjahr 2014 für drei Wochen in Untersuchungshaft. Er wurde aber aus gesundheitlichen Gründen und mangels Fluchtgefahr wieder freigelassen.
"System funktionierte nur, weil viele ihren Beitrag leisteten"
Aus Sicht des Leiters der Zentralen Stelle zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen wäre eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord sowohl im Fall Helma M. wie auch im Fall Hubert Z. nicht ausgeschlossen: Die Beschuldigten seien zwar sicherlich keine Haupttäter gewesen. "Aber die Nazi-Verbrechen waren 'arbeitsteilig' organisiert. Und sie haben nur funktioniert, weil viele Personen beteiligt waren und ihren - wenn auch vielleicht kleinen - Beitrag geleistet haben."
Einspruch gegen Haftstrafe für Oskar Gröning
Weltweit Schlagzeilen machte bereits im vergangenen Jahr der Fall des früheren SS-Mannes Oskar Gröning. Er musste sich in Lüneburg wegen seines Einsatzes in Auschwitz in den 1940er-Jahren verantworten. Das Landgericht wies Gröning eine zumindest indirekte Beteiligung an der Ermordung von 300.000 ungarischen Juden nach und verurteilte den 94-Jährigen zu vier Jahren Haft. Doch sowohl Gröning als auch mehrere Nebenkläger legten dagegen Einspruch ein. Vertreter von Auschwitz-Opfern fordern eine Verurteilung wegen Mordes und nicht nur wegen Beihilfe. Die Anwälte Grönings wollen dagegen ein milderes Urteil erreichen.
Revisionsverfahren gegen 94-Jährigen verzögert sich
Gröning hatte im Lüneburger Prozess detailliert über seine Rolle in Auschwitz ausgesagt und eine "moralische Mitschuld" für den Massenmord eingeräumt. Bis zur Rechtskraft des Urteils bleibt Gröning auf freiem Fuß. Aber auch wenn der Bundesgerichtshof die Haftstrafe bestätigt, könnte Gröning aus gesundheitlichen Gründen vom Strafantritt befreit werden.
Im Januar wurde bekannt, dass sich die geplante Revision vor dem Bundesgerichtshof wegen eines Formfehlers verzögert. Chef-Ermittler Rommel sagte NDR.de damals, er erwarte eine Entscheidung des BGH bis Mitte des Jahres. Von dem Urteil hänge auch ab, wie viele Prozesse gegen weitere mutmaßliche NS-Helfer noch geführt werden könnten.