Stand: 20.06.2018 14:05 Uhr

"True Crime" - was fasziniert uns daran?

von Amelia Wischnewski

Seit 1967 untersucht "Aktenzeichen XY" echte Verbrechen im Fernsehen - journalistische Recherche trifft in der Fernsehsendung auf ungelöste Kriminalfälle. Es ist damals das erste True-Crime-Format in Deutschland. Knapp 50 Jahre später erlebt das Genre einen erneuten Boom. Mit seinem Hochglanzmagazin "Crime" landet der "Stern" einen Erfolg am Kiosk, mitten in der Zeitungskrise. Der amerikanische Sender "HBO" löst mit seiner True-Crime-Serie "The Jinx" einen Fall, an dem die Justiz zuvor gescheitert war. Wie hat sich das Genre seit "Aktenzeichen XY"s verändert?

Mischung fiktionaler Stilmittel mit wahrer Story

Eine Seilbahn im Harz im Nebel © picture alliance / Bildagentur-online/Falkenstein
Unheimliches wirkt anziehend - wie diese Seilbahn im Harz.

"Bei 'Aktenzeichen XY' gibt es die Nachstellung der Taten, die aber eher oberflächlich sind", stellt Jens Ruchatz, Medienwissenschaftler an der Universität Marburg, fest und ergänzt: "Wir kennen die Figuren nicht, wir können uns in diese Figuren nicht reinversetzen. Und ich glaube, was in den letzten Jahren passiert ist, ist vor allem, dass durch diese Mischung von fiktionalen Stilmitteln mit der wahren Erzählung in den Vordergrund gerückt ist, dass wir uns mit diesen Figuren, mit ihrer Psychologie auseinandersetzen; und vielleicht auch eine Faszination für diese ambivalenten Figuren erleben und uns mit diesen, identifizieren ist vielleicht ein großes Wort, aber sie zumindest verstehen können."

Hätte man selbst zum Mörder werden können?

Was bewegt Menschen dazu, zu lügen oder zu stehlen, wie der Wirtschaftsbetrüger Felix Vossen, dessen Fall NDR Info in einer Podcast-Serie behandelte. Und: Hätte man auch selbst zum Täter, gar zum Mörder werden können? Während fiktionale Krimis die Sehnsucht nach der kathartischen Auflösung eines Falls befriedigen, rütteln True-Crime-Geschichten an Gewissheiten - Fälle von verurteilten Mördern werden medial neu aufgerollt. Wie bei Jens Söring, dem Protagonisten von "Das Versprechen".

Blick auf gesellschaftliche Missstände

Medienwissenschaftler Jens Ruchatz © Jens Ruchatz
Medienwissenschaftler Jens Ruchatz ist Professor an der Universität Marburg.

Für Jens Ruchatz stehen dabei folgende Fragen im Zentrum: "Ist die Person wirklich schuldig? Wie sehen Sie das? Was ist Ihre Perspektive? Oder auch, wenn jemand zu Unrecht im Gefängnis sitzt: Was wird passieren? Wird die Person irgendwann freikommen? Diese Offenheit, dass das Leben eigentlich die Geschichte weitererzählen wird, das ist eine ganz besondere Form, die die Fiktion bei all ihren Leistungen, die sie auch hat, nicht äquivalent bereitstellen kann."

Die Rückwirkung von True-Crime-Geschichten ins Leben erzeugt eine Art Hyperrealität. Was ist Erzählung und was passiert parallel in Jens Sörings Gefängniszelle fortlaufend weiter? Denn anders als die öffentliche Fahndung bei "Aktenzeichen XY" erlauben die modernen Formate auch einen Blick auf gesellschaftliche Missstände. Sie stellen die Frage nach den Umständen einer Tat und danach, wie gut ein Justizsystem eigentlich funktioniert.

 

 

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch unterwegs | 20.06.2018 | 16:20 Uhr

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