Homosexuelle in der DDR: Unsichtbar im Osten
Sie versteckten ihre Gefühle, lebten heimliche Beziehungen. Lesben und Schwule wurden in der DDR jahrzehntelang nicht akzeptiert. Wie erlebten Homosexuelle diese Zeit?
Unsichtbarkeit ist das Gefühl, das die Mecklenburgerin Bianka H. wie viele andere Lesben und Schwule in der DDR jahrelang begleitet hat. "Es gab so viele Dinge, über die man nicht gesprochen hat, und über so was eben auch nicht", erzählt sie bei einem Spaziergang über die Schweriner Schlossinsel. Sie wuchs in einer kleinen Stadt im heutigen Landkreis Ludwigslust-Parchim auf. Damals merkt sie, dass sie sich zu Frauen mehr hingezogen fühlt als zu Männern.
"Wir hatten eine unwahrscheinliche Angst"
Aber offen lesbisches Leben gibt es in der DDR nicht. "Es gab damals keine Möglichkeit, mit jemandem darüber zu sprechen", sagt Bianka H., die nach ihrem Studium als Bibliothekarin in Wismar arbeitet und dort eine Beziehung mit einer Frau eingeht. "Wir haben uns nicht offenbart. Wir hatten eine unwahrscheinliche Angst davor", sagt sie heute rückblickend. Ihre Beziehung bleibt geheim. Dass sie keinen Mann hat, ist für ihre Bibliothekskollegen nicht zu verstehen. "Eine Zeit lang haben sie mir die 'Wochenpost'-Zeitschrift hingelegt und bei den Kontaktanzeigen schon Anstreichungen gemacht, welche Männer für mich infrage kommen könnten", so Bianka H. Von da an nimmt sie auf Betriebsfesten einen schwulen Bekannten mit.
Keine öffentliche Wahrnehmung von Schwulen und Lesben
In der DDR-Öffentlichkeit werden Schwule und Lesben nicht wahrgenommen, in Radio und Fernsehen kommen sie nicht vor. "Schwule und Lesben wurden unsichtbar gemacht", sagt Kristine Schmidt vom Schwulen Museum Berlin. Sie verwaltet die Archivbestände über die ostdeutsche Homosexuellenbewegung.
"Es war verboten, Anzeigen für gleichgeschlechtliche Partnersuche zu schalten", erzählt sie. Oder die Kontaktanzeigen mussten verklausuliert geschrieben sein. Schmidt findet in einer der vielen Kisten eine alte Anzeige. "'Verzaubert' war zum Beispiel ein Wort, was in Anzeigen auftauchte, um zu sagen, welcher Mensch auf welcher Suche ist." Diese Unsichtbarkeit treibt viele Lesben und Schwule in der DDR in die Einsamkeit und Isolation.
Einflüsse aus dem Westen
Anfang der 70er-Jahre will eine Gruppe von Ost-Berliner Schwulen und Lesben ihre Situation nicht länger hinnehmen. Zu den Initiatoren gehört der damals 23-jährige Peter Rausch: "Wir sahen damals den Film von Rosa von Praunheim 'Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt' und wir waren elektrisiert", sagt er. Die Gruppe will ein Verein werden, doch das wird ihnen von den Behörden verboten. Zu groß ist die Angst der Staatsführung, dass sich die Bewegung politisch organisiert.
Erste Veränderungen
Erst in den 80er-Jahren sollte sich für Schwule und Lesben in der DDR merklich etwas ändern. 1982 veranstaltet die Evangelische Akademie Berlin-Brandenburg eine theologische Tagung zum Thema Homosexualität. Das Echo auf die Veranstaltung ist so groß, dass sich DDR-weit nach und nach kirchliche Gesprächs- und Arbeitskreise bilden.
Volker Gasser hat einen der ersten Gesprächskreise in Ost-Berlin mitgegründet: "Es wurde manchmal ein Film gezeigt und danach gab es eine Diskussion. Es gab aber auch immer Abende ohne Thema, wo man zusammengekommen ist und sich ausgetauscht hat über die Probleme, die jeder so hatte." Das Besondere an den Arbeitskreisen ist, dass die Türen für alle Menschen offenstehen sollen. "Die Teilnehmer damals waren sehr gemischt", sagt Gasser. "Vom Parteisekretär der SED bis zum Dissidenten, der einen Ausreise-Antrag stellte." Für sie alle wird die evangelische Kirche zu einem Schutzdach.
Empörung und Unterstützung
Auch im Nordosten werden Mitte der 80er-Jahre Gesprächskreise gegründet. An der Gründung in Schwerin ist Olaf Brühl mitbeteiligt. Ihm gelingt es 1985 sogar, in der mecklenburgischen Kirchenzeitung eine Artikelserie zum Thema Homosexualität zu veröffentlichen. Sie trägt den Titel: "Die Scham, dass einem das Hinsehen so leichtfällt."
"Es war überhaupt die erste Publikation in der DDR, in der auch jemand selbst sagt: Homosexualität ist etwas Positives und sie ist nicht etwas Krankes und nicht etwas, was wir bemitleiden müssen", sagt Olaf Brühl im Gespräch mit NDR Info. Die Veröffentlichungen sorgen für großes Aufsehen, auch innerhalb der evangelischen Kirche. Olaf Brühl: "Das war damals ein Sturm der Empörung, der auf mich losbrach. Es gab aber auch positive Reaktionen, und ich wurde von jungen Gemeinden zu Vorträgen eingeladen."
Die kirchlichen Bemühungen, Homosexuellen ein Schutzdach zu bieten, scheinen die DDR in Zugzwang zu bringen. Plötzlich werden Texte von bekannten DDR-Sexualwissenschaftlern wie Kurt Starke oder Siegfried Schnabl veröffentlicht. Das beliebte Jugendradio DT64 strahlt eine Sendereihe zum Thema Homosexualität aus. Bei der DEFA wird ein Spielfilm in Auftrag gegeben. Selbst im Palast der Republik wird ein Theaterstück aufgeführt, in dem sich schwule Männer über ihre Lebenssituation äußern.
Sonntags-Club veranstaltet Lesungen und Gespräche
Peter Rausch und seine Mitglieder von einst registrieren die zaghafte Änderung in der öffentlichen Wahrnehmung genau und wollen die Chance nutzen. Wieder versuchen sie, einen Verein zu gründen. "Damit die Vereinsgründung diesmal möglich wird, haben wir uns einen Tarnnamen gegeben", sagt Peter Rausch. Da die Gruppe jeden Sonntag Lesungen veranstaltet, zu Kulturgesprächen einlädt und Partys organisiert, kommen sie auf den Namen Sonntags-Club. Eine spezielle "Postbearbeitungsgruppe" beantwortet Briefe und hilft bei persönlichen Problemen. Für viele Homosexuelle in der DDR ist das die erste Möglichkeit, anonym über ihre Einsamkeit zu sprechen. Rausch sagt rückblickend: "Ich habe all das realisiert, was ich in den 70er-Jahren machen wollte. Genauso einen Club wollten wir schon damals haben."
Homosexualität im Osten früher straffrei als im Westen
Strafrechtlich gesehen scheint es vielen Lesben und Schwulen im Osten besser ergangen zu sein als im Westen Deutschlands. In der DDR war Homosexualität seit 1968 unter Erwachsenen straffrei, während in der Bundesrepublik der Paragraf 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, bis 1994 existierte. Auch die Strafverfolgung von Homosexuellen sei im Osten geringer gewesen, sagt Rüdiger Lautmann von der Universität Bremen. "Das ist ein Unterschied zu Westdeutschland gewesen, wo bis Ende der 60er-Jahre ein sehr starker Druck auf den Homosexuellen gelastet hat und der in allen Lebensbereichen sehr entscheidend durchgesetzt wurde." Trotzdem blieb die Akzeptanz gegenüber Homosexuellen im Arbeiter- und Bauernstaat stets verhalten, erklärt Lautmann. Homophobie gehörte zum Alltag.
Lesbischen und schwules Leben im Nordosten der DDR
Die alltägliche Homophobie sieht auch Stella Hindemith vom Verein "Lola für Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern" so. "Die frühe Abschaffung des Paragrafen 175 in der DDR führt in der Öffentlichkeit dazu, dass merkwürdigerweise der Eindruck entsteht, dann sei ja alles gut", sagt sie. Gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern aus Mecklenburg-Vorpommern hat sie sich der Geschichte von Lesben, Schwulen und Trans-Personen im Bundesland angenommen. "Sie alle waren schon immer Teil von Mecklenburg-Vorpommern und dafür wollen wir die Menschen sensibilisieren", sagt Hindemith.
So ist aus den Recherchen die Ausstellung "Wir* hier! Lesbisch, schwul und trans* zwischen Hiddensee und Ludwigslust" entstanden, die 2019 das ganze Jahr durch Mecklenburg-Vorpommern tourt. Auch die Geschichte von Bianka H. findet sich dort. Eine Hörstation gibt Auskunft über ihren Alltag in der DDR. "Da ist mir erstmal klar geworden, wie viel Zeit vergangen ist und wie viele Jahre ich verbracht habe, mit diesem seltsamen unsichtbaren Leben", sagt sie heute rückblickend. "Das finde ich das Schöne an der Ausstellung, dass wir uns heute offen zeigen können und dass jeder die Möglichkeit hat uns so aufzunehmen, wie wir sind."