Otto von Bismarck - Dämon oder Genie?
Er unterdrückte politische Gegner, einte die Nation und führte die modernsten Sozialgesetze seiner Zeit ein: Reichskanzler Otto von Bismarck. Bis heute ist er eine der umstrittensten Figuren der deutschen Geschichte.
Denn führte Otto von Bismarck etwa blutige Kriege, um einen deutschen Nationalstaat zu gründen, so hielt dann wieder 20 Jahre lang Frieden. Bekämpfte er Katholiken und Sozialisten einerseits, so führte er dennoch die fortschrittlichsten Sozialgesetze der damaligen Welt ein. Den einen gilt er daher als "Dämon der Deutschen", herrschsüchtig und skrupellos, den anderen als "politisches Genie". Am 1. April 1815 wurde Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen bei Stendal an der Elbe geboren.
Als Student feiert Bismarck Trinkgelage
Dabei sah es in seinen jungen Jahren nicht danach aus, dass dieser unzuverlässige Adelsspross einmal Regierungschef des größten und modernsten Staates Europas werden würde. Aufgewachsen in Hinterpommern, studierte er nach dem Abitur in Göttingen und Berlin Rechtswissenschaften, als Vorbereitung auf den Staatsdienst. Aber er besuchte den Fechtboden seiner Studentenverbindung häufiger als juristische Vorlesungen, zertrümmerte im Rausch Straßenlaternen und schoss einfach in die Decke, wenn er etwas von seinem Bediensteten wollte.
Affären und Spielschulden
Nach dem Examen wurde er Referendar in Aachen. Er genoss in der mondänen Kurstadt das elegante Leben, geriet durch häufiges Roulette-Spiel in hohe Schulden, verliebte sich in eine ältere Französin, dann in eine schöne Engländerin, der er monatelang hinterherreiste, weshalb er seine Stelle verlor.
Aber dem Staatsdienst weinte er keine Träne nach, weil er im "Orchester" der preußischen Beamten nicht "sein Bruchstück abspielen" wollte. Der junge Adelige verfügte schon früh über ausgeprägtes Selbstbewusstsein: "Ich will Musik machen, wie ich sie für gut erkenne, oder gar keine", schrieb er, und: Er wolle nicht "gehorchen", sondern "befehlen".
Landwirt mit Narrenkappe
Rund fünf Jahre bewirtschaftete er anschließend den Familienbesitz südlich von Stettin. Das Dasein eines preußischen Landadeligen blieb zeitlebens sein Ideal. Bei den benachbarten Gutsbesitzern gewann er rasch an Ansehen, weil er an jeder Jagd, jedem Fest, jeder Theateraufführung teilnahm, selbst wenn er Dutzende Kilometer dafür reiten musste. Bald war er als der "tolle Bismarck" bekannt, auch, weil er seine "Gäste mit freundlicher Kaltblütigkeit unter den Tisch trinken" konnte, wie er später notierte. Er verbarg sich hinter einer Maske, wie schon ein amerikanischer Studienfreund in Göttingen bemerkte: "In der Kneipe und auf der Straße treibt er es toll; auf seinem Zimmer aber wirft er die Narrenkappe ab und redet plötzlich vernünftig."
Deichhauptmann und Zeitungsgründer
Nach dem Tod seines Vaters wurde Bismarck 1845 Gutsherr von Schönhausen an der Elbe, im Alter von 30 Jahren. Mit den Jahren übernahm er immer mehr Ämter und Funktionen, wurde Deichhauptmann von Jerichow für das rechte Elbufer, Mitbegründer der später einflussreichen Kreuzzeitung, erzkonservativer Abgeordneter des nach der Revolution von 1848 neu eingerichteten Parlaments in Berlin. Inzwischen war seine monarchistische Gesinnung den Kreisen um den preußischen König aufgefallen, die ihn Ende der 1850er-Jahre als Diplomat nach Frankfurt, St. Petersburg und Paris schickten.
Otto von Bismarck wird Ministerpräsident
Im Sommer 1862 verbrachte Bismarck seinen Urlaub im französischen Seebad Biarritz, wo er mit einer russischen Fürstin schwimmen ging und beinahe ertrunken wäre. Wenige Tage später kam seine große Stunde. Das Parlament hatte Wilhelm I. die Erhöhung des Militäretats verweigert, und der König brauchte jetzt einen besonders unnachgiebigen Ministerpräsidenten. Den liberalen Parlamentariern rief der gleichzeitig zum Außenminister ernannte Bismarck alsbald zu: "Nicht durch Reden werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut!" Und regierte fortan ohne Zustimmung des Abgeordnetenhauses - ein kalkulierter Bruch der Verfassung.
Preußen wird unter Bismarcks Führung größer
Die Gründung eines deutschen Nationalstaats lag auch für ihn, anders als er später behauptete, damals noch nicht in Sichtweite. Aber er ergriff die sich bietenden Gelegenheiten: Nach Siegen gegen Dänemark an den Düppeler Schanzen 1864 und gegen Österreich bei Königgrätz (Böhmen) 1866 erweiterte er zunächst das preußische Staatsgebiet um Schleswig, Holstein und Lauenburg. Dann verleibte er Preußen auch noch das Königreich Hannover sowie Hessen und Frankfurt am Main ein. 1866 gründete er den Norddeutschen Bund, der unter preußischer Vorherrschaft 22 Staaten nördlich des Mains vereinte.
Aber erst der Krieg gegen Frankreich, der nach Streitigkeiten um die spanische Thronfolge im Juli 1870 von Bismarck provoziert ausbrach, brachte die Erfüllung eines von vielen gehegten Traumes: Nationale Begeisterung erfasste nun auch die süddeutschen Staaten, deren Truppen gemeinsam mit denen des Norddeutschen Bundes nach Westen marschierten. Nach dem überragenden Sieg über die Franzosen traten auch sie im November dem Bund bei. Im Januar 1871 folgte die Proklamation Wilhelms I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal von Schloss Versailles.
Auf dem Höhepunkt der Macht
Die deutsche Einigung hatte Bismarck nun erreicht, allerdings auf Kosten Preußens, das als selbstständige Macht von der Bühne der europäischen Politik verschwand. Der Kaiser belohnte seinen neuen Reichskanzler mit der Erhebung in den erblichen Fürstenstand. Außerdem beschenkte er ihn reich: mit der Herrschaft Schwarzenbek, dem Sachsenwald und Friedrichsruh. In den folgenden Jahren überließ er ihm auch weitgehend die Führung der Staatsgeschäfte. Bismarck war nun einer der mächtigsten Männer der Welt.
Kulturkampf und Sozialgesetze
Die ersten Jahre seiner Kanzlerschaft waren unruhig. Er kämpfte gegen die Katholiken und ihre Zentrumspartei, die er ebenso fehlender nationaler Gesinnung verdächtigte wie die Sozialdemokraten, die in diesen Jahren zu einer starken politischen Macht heranwuchsen. Das Sozialistengesetz von 1878 verbot deren Vereine, Versammlungen und Druckschriften, auch wenn Bismarck früher in Geheimgesprächen mit dem Arbeiterführer Ferdinand Lassalle eine Zusammenarbeit gegen die Liberalen sondiert hatte. In den 1880er-Jahren führte er dann Sozialgesetze für Arbeiter ein: eine gesetzliche Krankenversicherung (1883), eine Unfallversicherung (1884) und eine Rentenversicherung (1889). Zwar wollte er dadurch eigentlich verhindern, dass die Arbeiter die SPD wählten, dennoch waren diesen fortschrittlichen Gesetze damals weltweit einzigartig. In ihren Grundzügen gelten sie noch heute.
Der Kanzler sichert den Frieden
Auf der anderen Seite versuchte Bismarck jahrelang, das Deutsche Reich aus dem Wettlauf um Kolonien in Afrika und Asien herauszuhalten, weil er einen Konflikt mit Großbritannien und Frankreich vermeiden wollte. Überhaupt setzte er auf Frieden und Verständigung, nachdem er bei Königgrätz die blutigen Folgen des Krieges gesehen hatte. Er schloss Bündnisse und Rückversicherungsverträge mit Österreich, Russland und Italien und suchte eine Verständigung mit Großbritannien - ein äußerst komplexes System, das sich am Ende selbst widersprach. Aber dem Reich bescherte es Jahre der Ruhe und wirtschaftlichen Prosperität, in denen es zur bedeutendsten Industrienation der Erde aufstieg.
Abschied im Zorn
Das Ende seiner Kanzlerschaft kam ebenso rasch wie der Anfang. Wilhelm II., der 1888 den Thron erbte, wollte anders als sein Großvater persönlich regieren. Nach einem Streit über die Verschärfung der Sozialistengesetze wurde Bismarck am 20. März 1890 entlassen. Er verließ Berlin und zog sich grollend nach Friedrichsruh bei Hamburg zurück.
Von dort kommentierte er fortan die Politik seiner Nachfolger mit herber Kritik, während er selbst bald kultische Verehrung genoss. 1894 verlor er seine Frau Johanna, mit der er drei Kinder gehabt und eine glückliche Ehe geführt hatte. Danach schwanden seine Kräfte bald. Er starb am 30. Juli 1898, drei Jahre nach seinem 80. Geburtstag, an dem ihn im Sachsenwald beinahe eine halbe Million Geburtstagsgrüße erreicht und 50 Delegationen aufgesucht hatten.
Der Mythos ist verblasst
Bismarcks Mythos ist heute weitgehend verblasst. Er war weder Dämon noch ein Genie, sondern ein geschickter Diplomat, ein Meister auch von List und Intrige, der Gelegenheiten ergriff, wie sie sich ihm boten. Viele Historiker sind inzwischen der Ansicht, dass die staatliche Entwicklung auch ohne ihn ähnlich verlaufen wäre. Das Verhängnis begann erst mit Wilhelm II., der Bismarcks vorsichtige Politik der Statussicherung nicht mehr für zeitgemäß hielt und für Deutschland endlich auch "einen Platz an der Sonne" wollte. Er drängte nach Kolonien und Weltgeltung und führte das Land bis 1914 in jene außenpolitische Isolation, die Bismarck immer hatte verhindern wollen.