Stand: 06.04.2015 17:46 Uhr

Einschulung vor 80 Jahren: Die Letzten der 1A

"Mensch Pflaume, wie geht es dir?", mit dem Spitznamen aus der Schulzeit begrüßt Hans-Joachim Schrieber seinen alten Freund Hermann Holst. Für einen kurzen Moment wirkt es, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht. Da stehen sich wieder die sechsjährigen Hans und Hermann gegenüber - so wie am Tag ihrer Einschulung in der Volksschule Averhoffstraße in Hamburg-Uhlenhorst im April 1935. An dem Tag, als die Jungen noch nichts vom Zweiten Weltkrieg ahnten, als die Hansestadt noch nicht zerbombt war, als die Haare noch blond und nicht weiß waren, als die 40 Schüler der Klasse 1A alle noch lebten. "Wir sind noch übrig", sagt Holst. "Die anderen sind tot oder nicht mehr so mobil wie wir." Mit einem Glas Rosé für Schrieber und einer Tasse Kaffee für Holst stoßen die beiden am 80. Jahrestag ihrer Einschulung an.

Ohne Schultüte, aber mit Schiefertafel

"Eine Schultüte hatten wir damals nicht", erinnert sich der 86-jährige Holst. Und auch der Ton sei ziemlich rau gewesen, ergänzt Schrieber. "Vom Lehrer wurden wir nur mit Nachnamen angeredet. Da hieß es: 'Holst, komm her. Schrieber, Du hast wieder nicht gelernt.'" Auch der Rohrstock sei damals noch zum Einsatz gekommen. Ihr Lehrer hieß Herr Brandt. Die Jungen nennen ihn Papa Brandt, müssen ihn aber siezen. "Daran konnte ich mich nicht gewöhnen. Ich hab immer 'Du' zu ihm gesagt", erinnert sich Holst. Deswegen habe der Lehrer ihn einmal in den Kartenschrank gesperrt. Als der Lehrer ihn nach der Stunde fragt, ob er wisse, warum er in den Schrank gesperrt worden sei, antwortet der kleine Hermann: "Ja, ich soll immer "Sie" zu Dir sagen.

Holst stört den Unterricht

Rechnen, Schreiben, Lesen, Singen und Heimatkunde - die Schüler haben Papa Brandt in allen Fächern. Geschrieben wird mit Griffeln auf Schiefertafeln. "Meine Zahlen und Buchstaben waren gestochen scharf", erinnert sich Holst und klingt immer noch stolz. So stand es auch in seinem ersten Zeugnis. "Leider hatte Papa Brandt da auch reingeschrieben, dass ich meine Nachbarn durch Schwatzen stören würde." Schrieber prustet los: "Das hast du bis heute nicht abgelegt."

Der Zweite Weltkrieg beginnt

Hamburger Schüler in Wildbad Kreuth im Jahr 1939 © NDR
Nach Wildbad Kreuth werden die Jungen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ausquartiert.

Mit dem Ende der vierten Klasse verändert sich für die Jungen einiges: Nicht nur verlassen sie Papa Brandt und die Volksschule, um auf die Oberrealschule für Jungen auf der Uhlenhorst zu gehen, auch beginnt im September 1939 der Zweite Weltkrieg. Für die Elfjährigen ist es nun zu gefährlich, in Hamburg zu bleiben. Sie verabschieden sich von ihren Eltern und werden über die "Kinderlandverschickung" gemeinsam mit anderen Schülern und zwei Lehrern nach Wildbad Kreuth ausquartiert. Dort wo heute die CSU ihre jährliche Klausurtagung abhält, wohnen damals Hunderte Hamburger Schüler. "Erst war das für uns ein großes Abenteuer. Wir haben Nachtwanderungen gemacht und waren viel draußen in der Natur", erinnert sich Holst. "Damals eilten die Truppen ja noch von Sieg zu Sieg. An Blut und Tod und Sterben haben wir nicht gedacht."

Weit weg von Bomben

Das ändert sich 1943, als Hamburg bombardiert wird. Wieder sind die Jungen aus dem Gefahrengebiet gebracht worden - diesmal nach Siebenbürgen im heutigen Rumänien. "Wir hörten von den Angriffen. Einer der mitreisenden Lehrer ist nach Hamburg zurückgefahren, um zu sehen, was aus unseren Familien geworden ist", sagt Schrieber. "Als er wiederkam, hatte er schneeweiße Haare - wegen der schrecklichen Dinge, die er gesehen hat." Als sie am 6. Dezember 1943 um 3 Uhr morgens mit dem Zug nach Hamburg zurückkommen, erkennen sie ihre Heimatstadt nicht wieder. "Der Vollmond schien durch die Ruinen, durch die leeren Fensteröffnungen", erzählt Schrieber und wischt sich mit der Hand über die Augen. "Alles lag in Trümmern. Diese Bild werde ich nie vergessen. Das hat sich mir in die Seele gebrannt."

Nach dem Krieg mit Notabitur

Ihre gemeinsame Schulzeit endet hier. Schrieber trägt von nun an Uniform, ist der Fliegerabwehr zugeteilt und wird im Gefechtsstand unterrichtet. Holst wird zurückgestellt vom Militärdienst, weil er noch zu klein ist. Beide machen im Krieg ihr Notabitur. "Aber das war nach dem Krieg nicht mehr wert als das Papier, auf dem es stand", sagt Holst. Das Abitur nachholen kommt für beide nicht infrage. Sie müssen Geld verdienen und wollen Deutschland wieder aufbauen. Holst wird Feinmechaniker, Schrieber Graveur.

Nicht mehr aus den Augen verloren

Erst 1954 sehen sich die Klassenkameraden wieder: bei einem Klassentreffen der Oberschule, das Holst organisiert. "Da waren wir noch so viele", sagt er. Aus den Augen verlieren sich Holst und Schrieber seitdem nicht mehr. Denn Holst verschickt jedes Jahr einen Rundbrief. "Post von Pflaume" steht drauf. "Das, was wir haben, ist viel intensiver, als es heute in der Wohlstandsgesellschaft noch möglich ist. Wir waren damals in einer permanenten Ausnahmesituation, wir haben gelernt, zu überleben. Das schweißt zusammen", sagt Schrieber zum Abschied. "Mach's gut, Pflaume. War bestimmt nicht unser letztes Treffen."

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Nordtour: Den Norden erleben | 30.04.2016 | 18:00 Uhr

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