Das verhungerte Kind: Der Fall Jessica und die Folgen
Am 1. März 2005 fanden Notärzte die Leiche der siebenjährigen Jessica in einer Wohnung in Hamburg-Jenfeld. Der qualvolle Tod des verhungerten Mädchens löste eine Diskussion über Kindesmisshandlung aus und hatte bundesweit Konsequenzen.
Der Fall Jessica erschütterte im Jahr 2005 die deutsche Öffentlichkeit. Notärzte fanden am 1. März die Leiche der Siebenjährigen in einer Wohnung im Hamburger Stadtteil Jenfeld. Vorausgegangen war dem qualvollen Tod des Mädchens ein langes Martyrium: Die Eltern hatten ihre Tochter in einem abgedunkelten, ungeheizten Zimmer eingesperrt und über Monate hinweg langsam verhungern lassen. Am Ende wog sie nur noch 9,6 Kilogramm - so viel wie ein eineinhalb- bis zweijähriges Kind. In ihrer Verzweiflung hatte Jessica zuletzt Teppichreste und die eigenen Haare gegessen. Sie starb schließlich völlig entkräftet, das Mädchen erstickte an ihrem eigenen Erbrochenen.
"Kollektive Depression" legt sich über Hamburg-Jenfeld

Besonders im direkten Umfeld der Familie war die Betroffenheit damals groß. Nur wenige Hundert Meter entfernt von dem Haus, in dem Jessica starb, ist die Kirche von Pastor Thies Hagge. "Das ist nicht nur eine Katastrophe, die irgendwo passiert ist, sondern das ist in direkter Nähe zu mir geschehen", sagte er in der NDR Dokumentation "Die Narbe - Der Mordfall Jessica". Während die Eltern in Untersuchungshaft saßen, beerdigte der Pastor das Mädchen im Beisein vom damaligen Hamburger Ersten Bürgermeister Ole von Beust. Eine "kollektive Depression" habe sich nach dem tragischen Ereignis über den Stadtteil gelegt.
Eltern der verhungerten Jessica zeigen keine Reue

Vor Gericht zeigten die Eltern Marlies S. und Burkhard M. keine Reue. Jessica habe sich geweigert zu essen und zu trinken, habe Spielzeug und Teppich mutwillig kaputtgemacht, erklärte die Mutter. Am 25. November 2005 verurteilte das Hamburger Landgericht Mutter und Vater wegen Mordes und Misshandlung von Schutzbefohlenen zu lebenslanger Haft. Der Richter sah es als erwiesen an, dass die Eltern ihre Tochter absichtlich hatten verhungern lassen. Ein knappes Jahr später, am 17. Oktober 2006, wies der Bundesgerichtshof eine Revision als "offensichtlich unbegründet" zurück.
Fall Jessica bringt Behörden in massive Kritik
Der Fall löste bundesweit Diskussionen aus: Wie konnte es so weit kommen? Warum konnten die Eltern ihr Kind unbemerkt jeglicher Kontrolle entziehen? Schnell gerieten die Behörden ins Kreuzfeuer der Kritik. Als die Eltern das Mädchen bis zum März 2004 noch nicht in der Schule angemeldet hatten, schickte die Schulbehörde zwar einen Mitarbeiter zur Wohnung. Als der bei drei Besuchen aber nie jemanden antraf, verfolgte die Behörde den Fall nicht weiter, sondern leitete lediglich ein Bußgeldverfahren ein. Auch als Jessica im August 2004 nicht zum Schulunterricht erschien, prüfte niemand, warum das Mädchen fernblieb. Eine gezielte Zusammenarbeit mit anderen Behörden, etwa zwischen der Schulbehörde, dem Jugend- und Sozialamt gab es nicht. Für Jessica war das ihr Todesurteil.
Folge-Maßnahmen: Schulzwang und Kinderschutz-Hotlines
Pastor Thies Hagge wollte der gefühlten Hilflosigkeit etwas entgegensetzen und initiierte gemeinsam mit dem Arche-Gründer aus Berlin den Aufbau eines Kinderhauses in seinem Stadtteil. Seitdem gibt es die Arche Hamburg-Jenfeld, in der sozial benachteiligte Kinder wochentags kostenlos betreut werden.
Auf kommunaler Ebene führte Hamburg als erste Konsequenz aus dem Fall noch im Mai 2005 den Schulzwang ein. Seither können Behördenmitarbeiter ein Kind mithilfe eines Vollstreckungsbeamten vorführen lassen, wenn es nicht zur Schule erscheint. Im Zweifelsfall dürfen sie sich mit Unterstützung von Polizei und Feuerwehr Zutritt zur Wohnung verschaffen.
Im September 2005 verabschiedete die Hansestadt zudem ein umfangreiches Maßnahmenpaket. Die Stadt ließ eine rund um die Uhr erreichbare Kinderschutz-Hotline einrichten und schaffte neue Stellen in den Jugendämtern. Mitarbeiter der Jugendhilfe wurden zu "Kinderschutzfachkräften" fortgebildet.
Bundesländer entwickeln verschiedene Frühwarnsysteme
Ende 2006 starteten in mehreren Bundesländern Modellprojekte für ein sogenanntes Frühwarnsystem, darunter die Projekte "Pro Kind" in Niedersachsen und Bremen und "Wie Elternschaft gelingt" in Hamburg. Damit wurden die sogenannten Frühen Hilfen ausgebaut: Sie sollen Schwangere und ihre Familien bereits vor der Geburt und in den ersten Monaten und Lebensjahren des Kindes unterstützen. Dazu zählen unter anderem Familienhebammen-Projekte, die es in mehreren Bundesländern gibt und die die Begleitung junger Familien im ersten Lebensjahr des Kindes ermöglichen sollen.
U-Untersuchungen verbindlich, aber nicht bundesweit Pflicht
Ebenfalls 2006 brachte Hamburg eine Initiative in den Bundesrat ein, die Eltern zu den ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen ihrer Kinder verpflichten sollte. Die Hoffnung: Anzeichen von Vernachlässigung und Misshandlung bei Säuglingen und Kleinkindern werden so schneller erkannt. Dafür dürfen Ärzte den zuständigen Jugend- oder Sozialbehörden melden, wenn Eltern den Untersuchungen mit ihrem Kind fernbleiben oder der Verdacht auf eine Misshandlung besteht. Das bedeutet eine Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht.
Mehrere Bundesländer haben eine derartige Regelung mittlerweile auf Landesebene eingeführt. So sind etwa die Untersuchungen U1 bis U9 seit 2009 in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg gesetzlich verankerte Pflicht. In vielen weiteren Bundesländern bekommen die Eltern schriftliche Aufforderungen zu den Terminen - und je nach Landesregelung können sich bei nicht wahrgenommenen Terminen Jugend- oder Gesundheitsämter einschalten. Eine gesetzliche Verpflichtung zu den sogenannten U-Untersuchungen bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr gibt es aber nicht.
Kinderschutzgesetz wurde 2012 neu aufgesetzt
Mitte 2009 wollte die Große Koalition ein neues Kinderschutzgesetz verabschieden. Es sieht vor, die ärztliche Schweigepflicht bei Fällen von Kindesmisshandlung zu lockern. SPD und CDU konnten sich über wesentliche Punkte des Gesetzentwurfs aber nicht einigen - und verschoben die Vorbereitungen auf die kommende Legislaturperiode. Unter Schwarz-Gelb kündigte die neue Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) Ende Januar 2010 an, das Kinderschutzgesetz wieder in Angriff zu nehmen. Am 1. Januar 2012 trat es als Bundeskinderschutzgesetz in Kraft: Es enthält sowohl verbesserte Regelungen zum Kinderschutz wie auch mehr Eingriffsmöglichkeiten beim Verdacht auf dessen Verletzungen. So regelt es unter anderem, wie sogenannte Geheimnisträger, zum Beispiel Ärzte und Lehrer, bei Gefährdungen des Kindeswohls Informationen darüber weitergeben dürfen beziehungsweise müssen.
132 Kinder starben 2023 durch Gewalt
Doch all diesen positiven Bemühungen zum Trotz: Die Gesetzeslage ist das eine - die oft permanente Überlastung von Jugendämtern und unklare Zuständigkeiten einzelner Institutionen bilden die andere Seite der Realität. Schicksale wie die von Jessica oder auch Kevin oder Lea-Sophie sind keine Einzelfälle, sondern in ihrer extremen Form lediglich die Spitze des Eisbergs.
Die Zahlen sind erschreckend: Laut Statistischem Bundesamt wurden allein im Jahr 2023 knapp 63.700 Kindeswohlgefährdungen registriert - ein Anstieg um zwei Prozent im Vergleich zum Vorjahr und ein neuer Höchstwert.
Mehr noch: 132 Kinder unter 14 Jahren, davon 100 Kinder unter sechs Jahren, kamen 2023 nach Angaben des Bundeskriminalamts gewaltsam zu Tode. In 86 Fällen erfolgte bei Kindern unter 14 Jahren demnach ein Tötungsversuch. Die Zahl von versuchten und vollendeten Misshandlungen Schutzbefohlener gab das BKA für 2023 mit 4.336. an. 2021 waren es 4.465 Fälle.
Kindesvernachlässigung die häufigste Gefahr
Abgesehen von den alarmierenden Fällen der körperlichen, sexuellen und psychischen Gewalt nimmt die Vernachlässigung den größten Bereich der Kindeswohlgefärdung ein - ein Problem, das häufig im Dunkelfeld bleibt, da sich die Folgen oft schleichend abzeichnen. Dabei umfasst der Begriff sowohl den Mangel an Versorgung und Pflege wie auch die Missachtung seelischer Bedürfnisse.
Jeder zweite Erwachsene ist laut einer Studie der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm, UNICEF Deutschland und dem Deutschen Kinderschutzbund aus dem Jahr 2020 sogar noch immer der Meinung, dass ein Klaps auf den Hintern in der Erziehung nicht schade. Jeder Sechste hält es demnach sogar für angebracht, ein Kind zu ohrfeigen.
Kinderrechte ins Grundgesetz?
Bereits in der Legislaturperiode der Große Koalition hatte diese das Versprechen abgegeben, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Im Sommer 2021 musste die damalige Bundesjustiz- und Familienministerin Christine Lambrecht das Vorhaben allerdings für einstweilen gescheitert erklären. Die Regierungs- und die Oppositionsparteien konnten sich nicht auf eine entsprechende Passage einigen, die ins Grundgesetz hätte aufgenommen werden sollen.
Auch die nachfolgende Ampelkoalition hatte versprochen, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. "Dafür werden wir einen Gesetzesentwurf vorlegen und zugleich das Monitoring zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention ausbauen", so formulierten es zumindest SPD, Grüne und FDP auf Seite 98 ihres Koalitionsvertrages. Eine Umsetzung ist aber nicht erfolgt.
