Der Grabstein des im Alter von zweieinhalb Jahren verstorbenen Kevin auf dem Waller Friedhof in Bremen.  Foto: Ingo Wagner

Jessica, Kevin, Tayler: Wenn Kinder Opfer ihrer Eltern werden

Stand: 13.04.2022 05:00 Uhr

Vernachlässigt, misshandelt oder zu Tode geschüttelt: Immer wieder haben dramatische Fälle von Kindesmisshandlung Norddeutschland erschüttert. Meist kommen die Täter aus dem engsten Familienkreis. Ein Überblick.

Die Polizeilichen Kriminalstatistiken der letzten Jahre kommen immer wieder zu einem bitteren Ergebnis. Allein im Jahr 2020 sind demnach 152 Kinder gewaltsam gestorben. In 134 Fällen kam es zudem zu einem Tötungsversuch. 4.918 Fälle von Misshandlungen Schutzbefohlener zählt der Bericht außerdem - eine Steigerung von 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Darüber hinaus müsse man auch mit einer hohen Dunkelziffer rechnen, sagen die Beamten. In der Regel seien die Taten eine Folge von Überforderungssituationen.

Im Jahr 2005 wurde Fall der verhungerten siebenjährigen Jessica bekannt. Doch trotz behördlicher Anstrengungen und neuer Maßnahmen zum Kinderschutz sind seitdem weitere Kinder in Norddeutschland gewaltsam zu Tode gekommen:

Stiefvater schüttelt Tayler 2015 zu Tode

Mit einem Schütteltrauma und schwersten Hirnverletzungen kommt im Dezember 2015 der 13 Monate alte Tayler in die Notaufnahme des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Eine Woche liegt er dort im Koma - dann stirbt er. Vor Auftritt der Symptome müsse das Kind mindestens zehn bis 15 Mal heftig geschüttelt worden sein, wird ein Gerichtsmediziner später in sein Gutachten schreiben. Im Visier der Ermittler landen schnell die Eltern des Kindes. Nach Eingrenzung des Tatzeitraumes wird das Verfahren gegen die Mutter eingestellt. Sie wird vor Gericht als Nebenklägerin auftreten. Auf der Anklagebank landet stattdessen der Stiefvater.

Zwar beteuert er seine Unschuld. Doch das Gericht glaubt ihm nicht. "Sie haben den Tod des Kleinen billigend in Kauf genommen", wendet sich die Vorsitzende Richterin direkt an den Angeklagten. Wegen Totschlags wird er schließlich zu einer Haftstrafe von elf Jahren verurteilt.

2013 erschüttert der Fall Yagmur Hamburg

Das Grab der getöteten Yagmur auf dem Friedhof im Hamburger Stadtteil Öjendorf im Jahr 2014.  Foto: Daniel Bockwoldt
Das Grab der getöteten Yagmur auf dem Friedhof im Hamburger Stadtteil Öjendorf im Jahr 2014.

Es ist kurz vor Weihnachten im Jahr 2013, als die dreijährige Yagmur in der Wohnung ihrer Eltern im Hamburger Stadtteil Billstedt stirbt. Die Todesursache: schwere Misshandlung durch die Mutter. Bei der Obduktion des Mädchens werden mehr als 80 Hämatome und Quetschungen sowie ein schlecht verheilter Bruch des Unterarms festgestellt.

Zwar attestiert ein forensischer Psychater der Mutter eine postnatale Bindungsstörung, eingeschränkt sei ihre Schuldfähigkeit damit jedoch zu keinem Zeitpunkt gewesen. Sie wird zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Mordes verurteilt. Aber auch der Vater wird schuldig gesprochen: Wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen muss er für viereinhalb Jahre ins Gefängnis.

Die elfjährige Chantal stirbt 2012 durch Methadon

Blumen, Gedenktexte und ein Bild erinnern am 26.01.2012 in der Nelson Mandela Schule in Hamburg an die verstorbene Schülerin Chantal.  Foto: Markus Scholz
Besonders bei ihren Mitschülern löste der Tod von Chantal große Anteilnahme aus.

Am 16. Januar 2012 klagt die elfjährige Chantal über Unwohlsein und Erbrechen. In der Wohnung ihrer Pflegeeltern in Hamburg-Wilhelmsburg sucht sie nach einem geeigneten Medikament. Was sie findet, ist Methadon - einen Heroin-Ersatzstoff. Nur Stunden später stirbt Chantal unbeaufsichtigt in ihrem Bett.

Die Obduktion des jungen Mädchens ergibt: Chantal ist an einer Methadonvergiftung gestorben. Die Pflegeeltern, in deren Obhut das Jugendamt das Mädchen gegeben hatte, werden wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen verurteilt. Sie hatten das Methadon zu diesem Zeitpunkt eingenommen, um ihre Drogensucht zu bekämpfen.

Lara Mia stirbt 2009 in Wilhelmsburg - trotz Betreuerin

Ein Plakat zum Schweigemarsch für Lara Mia und Chantal hängt an einer Laterne in der Wohnstraße Chantals. © NDR.de Foto: Daniel Sprenger
Auch nach Lara Mias Tod ist die öffentliche Anteilnahme groß, wie etwa dieser Aufruf zu einem Schweigemarsch zeigt.

Lara Mia stirbt am 11. März 2009 in einer Wohnung im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, vermutlich an den Folgen ihrer Unterernährung. Das nur neun Monate alte Baby wog bei seinem Tod nur 4,8 Kilogramm - rund acht Kilo wären in diesem Alter normal gewesen.

Besonders bitter: Das Kind starb nahezu vor den Augen des Sozialamtes, das der Familie zuvor bereits eine Betreuerin zur Seite gestellt hatte. Noch acht Tage vor Lara Mias Tod hatte die Sozialpädagogin die Familie besucht. Ihr war nichts aufgefallen. Der Stiefvater des Mädchens wird Anfang 2017 zu einer Haftstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt. Wegen versuchten Totschlags muss auch die Mutter für drei Jahre ins Gefängnis.

Lea-Sophie verhungert und verdurstet 2007 in Schwerin

Blumen und Kuscheltiere liegen auf dem Grab von Lea-Sophie auf dem Waldfriedhof in Schwerin.  Foto: Jens Büttner
Nur fünf Jahre wurde Sophie alt. Noch Monate nach ihrem Tod liegen im April 2008 Blumen und Kuscheltieren an ihrem Grab.

Die fünfjährige Lea-Sophie aus Schwerin stirbt im November 2007 nach wochenlanger Vernachlässigung, kurz nachdem sie mit schwersten Mangelerscheinungen und Liegegeschwüren am Körper vom Notarzt in eine Klinik eingeliefert worden war. Das Mädchen wiegt zu diesem Zeitpunkt weniger als 7,4 Kilogramm. Die Obduktion ergibt: Lea-Sophie ist verhungert und verdurstet.

Die Eltern werden zu elf Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie tatenlos dabei zugesehen haben, wie ihre kleine Tochter gestorben ist - eigenen Angaben zufolge aus Angst, das Jugendamt könnte ihnen das Sorgerecht für ihre Kinder entziehen.

Drogensüchtiger tötet 2006 in Bremen den zweijährigen Kevin

Im Oktober 2006 klingeln Beamte bei Kevins drogensüchtigem Ziehvater, wo der Junge nach dem Tod seiner Mutter lebt. Auf Anweisung des Familiengerichts sollen sie Kevin endlich aus seinem gewalttätigen Umfeld holen. Die Leiche des Kindes finden sie schließlich im Kühlschrank. Wie lange Kevin zu diesem Zeitpunkt tot ist, kann nicht geklärt werden. Der Gerichtsmediziner zählt 21 Knochenbrüche.

Immer wieder war Kevins Ziehvater wegen seines Drogenkonsums und aggressiven Verhaltens in der Öffentlichkeit aufgefallen. Vor Gericht gesteht der Mann, das Kind misshandelt und getötet zu haben. Er wird zu zehn Jahren Haft verurteilt.

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Kerzen vor einem Schild mit der Aufschrift Warum

Kevins Tod - Ein Behördenskandal

Im Bremer Problembezirk Gröpelingen wird 2006 in einem Kühlschrank die halb verweste Leiche eines zweijährigen Jungen gefunden. Schnell stellt sich schnell heraus, dass die zuständigen Behörden von dem langen Martyrium des Kindes gewusst hatten. mehr

Zweijähriger Tim wird 2005 in Elmshorn totgeprügelt

Sechs Tage dauert die Suche nach dem zweieinhalbjährigen Tim im November 2005. Seinen leblosen Körper finden die Beamten schließlich in einer gut versteckten Sporttasche auf dem Gelände eines Hauses in Elmshorn. Als Todesursache geben die Gerichtsmediziner schwere Gewalteinwirkung gegen den Kopf fest.

Der 38-jährige Freund der Mutter gesteht die Tat. Er gibt an, das Kind mit dem Kopf gegen eine Wand geschlagen zu haben, während die Mutter nicht dabei gewesen sei. Er wird zu 13 Jahren Haft verurteilt.

Jessica verhungert 2005 qualvoll in Hamburg-Jenfeld

Am 1. März 2005 wird im Hamburg-Jenfeld die Leiche der siebenjährigen Jessica gefunden: Das Mädchen war an ihrem eigenen Erbrochenem gestorben, nachdem es monatelang in einem abgedunkelten, ungeheizten Zimmer gehungert hatte. In ihrer Verzweiflung hatte sie schließlich Teppichreste und ihre eigenen Haare gegessen.

Die Eltern zeigen vor Gericht keine Reue. Jessica habe sich geweigert zu essen und zu trinken, habe Spielzeug und Teppich mutwillig kaputtgemacht, erklärt die Mutter. Für den Richter gilt es stattdessen als erwiesen, dass die Eltern schuldig sind und das Kind absichtlich haben verhungern lassen. Beide werden zu lebenslanger Haft verurteilt.

Weitere Informationen
Grab der verhungerten Jessica auf dem Friedhof Rahlstedt in Hamburg (Aufnahme aus dem Jahr 2005). © picture alliance / dpa Foto: Ulrich Perrey

Das verhungerte Kind: Der Fall Jessica und die Folgen

Am 1. März 2005 finden Notärzte in Hamburg die Leiche der verhungerten siebenjährigen Jessica. Ihr qualvoller Tod hat bundesweit Konsequenzen. mehr

Dieses Thema im Programm:

Die Narbe | 13.04.2022 | 21:00 Uhr

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