Alte Gesetze: Paragrafen aus dem 19. Jahrhundert
Es gibt viele gültige Gesetzesparagrafen, die älter sind als das Grundgesetz. Wie zeitgemäß sind sie noch? Ein Blick in das Bürgerliche Gesetzbuch, das aus der Kaiserzeit stammt.
Viele der Gesetze, die in Deutschland gelten, sind älter als die Bundesrepublik selbst. Das Grundgesetz ist seit 1949 in Kraft, aber wichtige Eckpfeiler unserer Rechtssprechung - wie das Strafgesetzbuch oder das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) - sind viel älter. Aber: Sind sie auch noch aktuell?
In Deutschland gibt es rund 1.700 Bundesgesetze, dazu unzählige Landesgesetze sowie Verordnungen. Und es ändert sich ständig etwas: Allein in der vergangenen 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags wurden 555 Gesetze verabschiedet. Das umfasst sowohl Änderungen an bestehenden Gesetzen als auch neue Gesetze. Trotzdem: Eine Vielzahl an Paragrafen hat sich seit dem späten 19. Jahrhundert nicht geändert.
Das BGB unter der Lupe
Das NDR Datenteam hat das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) untersucht, das die wichtigsten Regeln zum Zivilrecht in Deutschland enthält. Das BGB regelt die Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen, deckt also zum Beispiel die Themen Kaufen, Mieten, Ehe und Erben ab.
Der erste Entwurf des Gesetzbuchs wurde im Dezember 1887 von einer Kommission aus Richtern, Beamten und Professoren vorgelegt. Im August 1896 stimmte eine klare Mehrheit im Reichstag dem endgültigen Entwurf zu und auch Kaiser Wilhelm II. unterschrieb. Nach einer vierjährigen Übergangszeit trat es schließlich am 1. Januar 1900 im gesamten Kaiserreich in Kraft.
Die Rechtstexte überdauerten das Ende des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes sorgten dafür, dass das BGB auch nach 1949 in der neuen Bundesrepublik weiter bestand. Auch in der DDR galt das BGB noch, bis es 1976 vom Zivilgesetzbuch abgelöst wurde.
"Die Ehefrau theilt den Wohnsitz des Ehemanns"
Seit der Kaiserzeit hat sich viel getan, immer wieder wurden Teile des BGB reformiert. Einige Paragrafen wurden stark verändert - oder gleich ganz gestrichen - wie zum Beispiel zum Wohnsitz der Ehefrau:
"§ 10: Die Ehefrau theilt den Wohnsitz des Ehemanns. Sie theilt den Wohnsitz nicht, wenn der Mann seinen Wohnsitz im Ausland an einem Orte begründet, an den die Frau ihm nicht folgt und zu folgen nicht verpflichtet ist." § 10 BGB, Reichsgesetzblatt 1896, S. 195, Nr. 21
Dieser Paragraf wurde erst am 18. Juni 1957 durch das "Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts" gestrichen. Viele andere Paragrafen, zum Beispiel über die Stellung von unehelichen Kindern, wurden erst zu Zeiten der großen Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger und der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt reformiert.
46 Prozent aus dem 19. Jahrhundert
Und trotzdem gibt es nach wie vor Paragrafen, die sich seit 1896 nicht geändert haben - sieht man von einer modernisierten Rechtschreibung mal ab. Vergleicht man die Version von 1896 mit der von 2017, zeigt sich, dass rund 46 Prozent des Gesetzestextes mehr oder weniger identisch sind. In weiteren sieben Prozent des Textes gab es nur kleine Änderungen (zum Beispiel "1. Teil" statt "1. Theil").
Die Grafik zeigt alle 2.385 Paragrafen des BGB von links nach rechts. Die roten Streifen zeigen große Änderungen an, bei den blauen Streifen hat sich nur wenig verändert.
Große Änderungen gab es vor allem im Familien- und Erbrecht, aber auch im Arbeitsrecht.
Andere Bereiche sind seit rund 120 Jahren ohne Änderungen. Ein Beispiel findet sich direkt am Beginn des Gesetzbuches:
"§ 1: Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt." § 1 BGB, Reichsgesetzblatt 1896, S. 195, Nr. 21
Aber auch andere Bereiche des Bürgerlichen Gesetzbuches, die ins Detail des Zivilrechts gehen, haben sich nicht verändert:
"§ 923: Steht auf der Grenze ein Baum, so gebühren die Früchte und, wenn der Baum gefällt wird, auch der Baum den Nachbarn zu gleichen Teilen. Jeder der Nachbarn kann die Beseitigung des Baumes verlangen. Die Kosten der Beseitigung fallen den Nachbarn zu gleichen Teilen zur Last. Der Nachbar, der die Beseitigung verlangt, hat jedoch die Kosten allein zu tragen, wenn der andere auf sein Recht an dem Baume verzichtet; er erwirbt in diesem Falle mit der Trennung das Alleineigentum. Der Anspruch auf die Beseitigung ist ausgeschlossen, wenn der Baum als Grenzzeichen dient und den Umständen nach nicht durch ein anderes zweckmäßiges Grenzzeichen ersetzt werden kann. Diese Vorschriften gelten auch für einen auf der Grenze stehenden Strauch." § 923 BGB, Reichsgesetzblatt 1896, S. 195, Nr. 21
Ob Grenzbaum, Grund und Boden, Eigentum und Schulden - in einigen Bereichen scheinen die Regeln aus der Kaiserzeit nach wie vor aktuell zu sein. Auch 120 Jahre später.