Stand: 03.05.2018 00:00 Uhr

Geheimplan 1967: Giftgas über Braunschweig

von Lena Gürtler, Jennifer Lange, Christoph Heinzle, NDR Info
Bundeswehrdokument aus dem Bundesarchiv Freiburg, das die Berechnung "tödlicher Ausfälle" durch einen Angriff mit dem Nervenkampfstoff VX darstellt. © Bundesarchiv Freiburg (BH2/1585)
Bei der Bundeswehr gab es den Unterlagen aus den 1960er-Jahren zufolge detaillierte Planungen für eine chemische Kriegsführung.

Bundeswehr-Kampfjets fliegen Angriffe. Nervengas regnet zu Boden, auf Soldaten und Panzer, aber auch auf Braunschweig und kleine Orte rund um die Stadt. Das Giftgas trifft auch die deutsche Bevölkerung - zumindest nach dem Szenario der geheimen Planuntersuchung "Damokles", die die Bundeswehr 1967 durchführte. Mit dem C-Waffen-Einsatz wollte sie einen Angriff von Warschauer-Pakt-Truppen vergelten. Die Sowjets hatten in dem Planspiel Braunschweig eingenommen.

Öffentliche Dementis von Regierung und Bundeswehr

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Hand auf Landkarte © NDR Foto: Screenshot

Streng geheim: Deutsche Chemiewaffenpläne im Kalten Krieg

Nie wieder Auschwitz, nie wieder Chemiewaffen. Das hatte die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg geschworen. Doch Recherchen zeigen: Die Bundeswehr plante mit Chemiewaffen. mehr

Dieses Manöver am Konferenztisch war jedoch mehr als eine theoretische Übung eines Giftkriegs: Es war Teil detaillierter Planungen der Bundeswehr für eine chemische Kriegsführung. Und das, obwohl Bundeswehr und Bundesregierung immer wieder öffentlich dementiert hatten, die Beschaffung und den Einsatz chemischer Waffen zu planen.

Doch genau das tat sie von 1962 bis mindestens 1968. Das belegen Unterlagen der Bundeswehr und der US-Regierung, die jahrzehntelang geheim waren und jetzt von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" ausgewertet wurden.

 

1961 begann Diskussion über C-Waffen-Einsatz

Bundeswehr-Generalinspekteur Friedrich Foertsch salutiert während des Abspielens der Nationalhymne im März 1962 in Bonn. © dpa / picture alliance Foto: Kurt Rohwedder
Bundeswehr Generalinspekteur Friedrich Foertsch war für den C-Waffen-Einsatz im Ernstfall.

Bereits 1961 - also nur 16 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs - stießen Bundeswehrgeneräle in der NATO eine Diskussion über den C-Waffen-Einsatz an. "Wir können auf solche Mittel nicht verzichten", sagte Generalinspekteur Friedrich Foertsch damals im NATO-Militärausschuss.

Deutschland hatte sich in internationalen Abkommen rechtlich verpflichtet, auf die Herstellung und Verwendung chemischer Waffen zu  verzichten. Doch USA und NATO planten im Falle eines C-Waffen-Angriffs der Warschauer Pakt-Staaten auch die Vergeltung mit chemischen Waffen, was sie für zulässig hielten. 

US-Regierung gab Chemiewaffen nicht weiter

Das nutzte die Bundesregierung für einen Vorstoß. Ende 1963 bat Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (CDU) die USA, Deutschland mit Chemiewaffen zu beliefern. "Das war ein wirklich heißes Eisen", erinnert sich der damalige US-Regierungsberater und Chemiewaffen-Experte Matthew Meselson an diesen Moment. Die US-Regierung beriet lange und entschied dann 1966: Nein, keine Weitergabe chemischer Waffen an Deutschland. Die Alliierten behielten sich aber vor, im Kriegsfall chemische Munition zur Verfügung zu stellen.

"Friedensvorrat des Feldheers"

Auf einem Schwarz-Weiß-Foto sind zwei Bundeswehrsoldaten zu sehen, die Gasmasken tragen. © ZDF-Magazin
Die Soldaten probten auch den Einsatz bei einem Chemiewaffen-Angriff mit Gasmasken.

Unterdessen trieb die Bundeswehr allerdings ihre eigenen Pläne voran. Ein streng geheimes Papier des Führungsstabs von 1964 sah einen "Friedensvorrat des Feldheers" von "14.000 Tonnen chemischer Sprengmunition" vor. Und die ausgewerteten Dokumente offenbaren noch detailliertere Planungen der Generäle in Rücksprache mit dem Verteidigungsministerium. Dazu gehörte auch die "Studiengruppe ABC-Wesen": ein Expertenteam aus Militärs, die auch die Planuntersuchung "Damokles" vorbereiteten.

Sorgfältig inszenierte DDR-Kampagne

Von dieser Studiengruppe berichtete auch der westdeutsche Biologe Ehrenfried Petras Ende 1968 in einer DDR-Pressekonferenz. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern war er in die DDR "geflüchtet" und beschrieb von hier aus das "westdeutsche Rüstungsprogramm auf dem B- und C-Waffen-Sektor [...] als ein straff organisiertes System der Forschung, Testung und Produktionsvorbereitung".

Petras' Vorwürfe waren Teil einer sorgfältig inszenierten DDR-Kampagne von Stasi und SED. Laut einem Protokoll des Sekretariats des Zentralkomitees der SED wurde die "Enthüllung der westdeutschen B- und C-Waffen-Rüstung" unter Vorsitz von Erich Honecker geplant.

Die "Erprobungsstelle 53" in Munster

Das "Wehrwissenschaftliche Institut für Schutztechnologien" in Munster/Niedersachsen, aufgenommen am 1.8.2000. © dpa picture alliance Foto: Holger Hollemann
Im niedersächsischen Munster hat das heutige "Wehrwissenschaftliche Institut für Schutztechnologien - ABC-Wesen" seinen Sitz.

Die Journalisten Günter Wallraff und Jörg Heimbrecht nahmen die DDR-Kampagne zum Anlass für Recherchen. In der Zeitschrift "Konkret" und im ARD-Magazin "Monitor" veröffentlichten sie 1969 und 1970 Beiträge - zum Beispiel unter dem Titel "Giftgas für die Bundeswehr".

Im Zentrum stand damals auch immer wieder die "Erprobungsstelle 53" der Bundeswehr im niedersächsischen Munster, das heutige "Wehrwissenschaftliche Institut für Schutztechnologien - ABC-Wesen". Belege für eine Herstellung von chemischen Waffen dort gibt es bis heute nicht.

Bundeswehr: "Keine Chemiewaffen auf deutschem Boden"

In den 60er- und 70er-Jahren allerdings dementierte das Bundesverteidigungsministerium pauschal alle Vorwürfe als von der DDR "manipuliert". Doch dass sie einen wahren Kern hatten, belegen die nun vorliegenden Akten. Die Bundeswehr hat jahrelang den Einsatz von C-Waffen geplant und war damit zum Tabubruch bereit.

Die Planübung "Damokles" mit dem Giftkrieg über Braunschweig war Höhepunkt dieser Planung, zugleich aber auch ihr Schlusspunkt. 1968 entschied der damalige Verteidigungsminister Gerhard Schröder (CDU), "zunächst (...) keine Vorbereitung für eine aktive Verwendung von chemischen Waffen durch die Bundeswehr vorzusehen". Die Studiengruppe solle sich aber weiter mit dem Thema beschäftigen.

Auf Anfrage von NDR, WDR und "SZ" erklärte das Bundesverteidigungsministerium jetzt, ihm lägen zu den damaligen Planungen keine Informationen vor, da der Vorgang zeitlich zu weit zurückliege. "Heute existieren auf deutschem Boden weder in deutscher noch in Verantwortung von NATO-Verbündeten Chemiewaffen."

 

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NDR Info | Aktuell | 03.05.2018 | 06:20 Uhr

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