9. November 1989: "Wir sind das Volk" im Norden
Vor 35 Jahren öffnen sich in der DDR die Grenzen. Dem ging wochenlanger Protest voraus. Auch im Norden demonstrierten die Menschen gegen die SED-Diktatur, für freie Wahlen und Freiheit. Unter anderem in Waren, Rostock, Schwerin oder Neubrandenburg. Oppositionelle wollten das Land verändern. "Wir sind das Volk" - für Joachim Gauck der schönste Satz der Demokratiegeschichte, der heute missbraucht wird.
"Unbeschreiblich" - so erinnert Joachim Gauck 35 Jahre später seine Gefühlslage im Herbst 1989: "eine Hochstimmung, wie ich sie nie wieder erfahren habe im Leben", selbst nicht, als erster ostdeutscher Bundespräsident im vereinten Deutschland. Denn plötzlich konnte erahnt werden, dass die Demokratie gewinnen könnte. "In uns lebte ja noch die Angst. Wir waren immer nur Verlierer. Die Staatsmacht war immer stärker, zusammen mit den Russenpanzern", erzählt Gauck in Hinblick auf die Diktaturerfahrung der niedergeschlagenen Aufstände vom 17. Juni 1953 in der DDR oder aber des Prager Frühlings von 1968. "Wir wussten ja noch nicht, was sich verändert und wie weit unsere Kraft reichen würde ... das sind so seltene Augenblicke im Leben." Dass alles friedlich ausgehen würde, war damals alles andere als klar. Gauck, damals Pastor in Rostock, erinnert daran, wie viele sich damals nicht trauten, ihre Kinder mit zu den Andachten, mit zu den Demonstrationen zu nehmen. Auch wegen dieser Fernsehbilder aus dem Süden der DDR: Beamte der Volkspolizei verhaften Demonstranten und reagieren auf die Proteste mit Knüppeln und Schlagstöcken.
Aram Radomski: Kameramann der Friedlichen Revolution
Der Mann, der die brisanten Aufnahmen der Montagsdemonstrationen gedreht hat, ist der Neubrandenburger Aram Radomski. Mit seinem Kollegen Siegbert Schefke filmt er damals heimlich für das ARD Politmagazin "Kontraste" und die Tagesthemen. "Wir haben quasi eine Innenansicht der DDR hergestellt", so Radomski. Mit bewegten Bildern von verfallener Bausubstanz in den Großstädten, Umweltverschmutzung oder Zwangsarbeitern in der DDR. Am 9. Oktober 1989 fährt er nach Leipzig und filmt vom Kirchturm der Reformierten Kirche, wie weit mehr als 70.000 Menschen um den Innenstadtring ziehen. Und im Westfernsehen sind sie später zu sehen und Sprechchöre zu hören: "Wir sind das Volk" und "Schließt euch an."
Christoph de Boors heimliche Treffen im eigenen Wohnzimmer
Nachdem in Leipzig keine Panzer eingesetzt werden, fasst man im Norden neuen Mut. "Was die im Süden können, das müssen wir auch tun", erzählt de Boor. Es habe eher aufgestachelt, selbst aktiv zu werden. Am 8. Oktober organisiert er im eigenen Wohnzimmer ein Treffen mit gut 30 Widerständigen. Beim Lesen seiner Stasi-Akten fällt Christoph de Boor auf: Die Staatssicherheit hatte scheinbar keine Informationen über dieses Treffen. "Wir sind nicht in aggressive Konfrontation zum Staat gegangen. Wir wollten innerhalb dieses Systems Veränderung bewirken." An eine Wiedervereinigung Deutschlands denkt de Boor bis zum Fall der Mauer nicht.
"Einheit noch gar nicht vor Augen"
"Die große Freiheit stand uns noch gar nicht vor Augen, die Einheit schon überhaupt nicht", erzählt Joachim Gauck. Es sei um den friedlichen Dialog mit der Macht gegangen, um das Ende der Alleinherrschaft der SED. Er spricht in der Rostocker Marienkirche und macht den Menschen Mut, ihre Angst "nicht nur wahrzunehmen, sondern ein bisschen zurückzuschrauben", so Gauck. Er fügt hinzu: "Nachdem wir so zu uns selbst gekommen sind und unsere Kraft erkannt haben, kann es nicht so sein, dass sich nichts verändert."
Anfang Dezember 1989 wurde auch im Norden die Stasizentralen besetzt, Akten des Repressionssystems gesichert und vor der Vernichtung bewahrt.
Comeback des Wendeslogans: "Übergriffig"
Beheimatet ist Joachim Gauck dort, wo Menschen frei sein können. Das "Wir" in "Wir sind das Volk" habe vor 35 Jahren diejenigen beschrieben, die in politischer Ohnmacht lebten. "Dieses 'Wir' richtete sich gegen die Minderheit, die ihre Herrschaft über die Vielen dauerhaft festhalten wollte. Das ist das damalige 'Wir'. Und wenn heute dieses Wort missbraucht wird, von bestimmten Gruppen in der Gesellschaft, dann sind sie zwar Teil des Volkes, aber dieses umfassende 'Wir', dass wir damals definiert haben, das können sie eben nicht beanspruchen. Das bilden sie sich ein." Übergriffig sei das, sagt Gauck stirnrunzelnd. "Die bezeichnen heute die Demokratie, die wir damals gewollt haben, als 'System'. Ja, was wollen sie denn? Was für ein Zukunftsbild haben sie denn? Wollen sie ein anderes Deutschland?"