Anti-AKW-Protest 1977: "Schlachtfeld" Grohnde
Der 19. März 1977 ist ein schöner Tag im Weserbergland. Eigentlich. Ein Hauch von Vorfrühling liegt in der Luft. Doch viele Menschen haben anderes im Sinn, als den Tag zu genießen: Mehr als 20.000 Menschen versammeln sich in Grohnde, einem kleinen Ort rund 50 Kilometer südlich von Hannover, um gegen den Bau eines Atomkraftwerks (AKW) an der Weser zu demonstrieren. Einer von ihnen ist Peter Dickel, ein Jurastudent aus Hamburg, der sich in der aufkeimenden Anti-Atomkraft-Bewegung engagiert. "Viele Demonstranten waren geradezu euphorisch", erinnert er sich. Doch im Laufe des Tages soll sich die Stimmung bei vielen Menschen verfinstern. Was als friedlicher Protest gegen den geplanten Atommeiler geplant war, wird zu einer regelrechten Schlacht zwischen Demonstranten und Polizisten. Nicht nur das von der Polizei eingesetzte Tränengas sorgt für Tränen. Hunderte Menschen - Demonstranten wie auch Polizisten - werden teils schwer verletzt.
"Mauerblümchen" Grohnde
Gemeinsam mit dem Historiker Bernhard Gelderblom will Peter Dickel die Erinnerungen an jenen für die Region einschneidenden Tag wachhalten. Medial habe Grohnde damals keine große Rolle gespielt, sagt er. Ganz im Gegensatz zum schleswig-holsteinischen Brokdorf, wo ebenfalls ein AKW errichtet werden sollte. Die Bilder von den gewalttätigen Auseinandersetzungen waren damals in der Tagesschau bundesweit zu sehen und Gesprächsthema. "Grohnde war bis dahin ein Mauerblümchen", sagt auch der Hamelner Historiker Gelderblom.
Vereint gegen das Atomkraftwerk
Dabei war jener März-Tag in Grohnde laut Dickel nicht minder hart. In Brokdorf sei dies zu erwarten gewesen. Die Nähe zur Metropole Hamburg mit ihrer großen linken Szene hätte dabei eine Rolle gespielt, so Dickel. Im Weserbergland gab es eine solche Szene nicht in diesem Ausmaß. In der Region hatte sich der Protest gegen das AKW in mehreren Bürgerinitiativen organisiert. "Dabei waren Lehrer, Angestellte, Handwerker und Landwirte, die ganz unterschiedliche politische Positionen vertraten, sie alle einte aber die Haltung gegen das geplante AKW an der Weser", sagt Dickel.
Nicht nur friedlicher Protest
Gewalt als Mittel des Widerstands wurde von vielen Menschen in der Region abgelehnt. Unter den Studenten aus Hamburg, Göttingen und Bielefeld habe es viele gegeben, die damals dazu eine andere Haltung gehabt haben, so Dickel. Seit den 60er-Jahren sei die Gesellschaft auch durch die Studentenbewegung im Umbruch gewesen. Man habe die Einstellung gehabt, dass man sich es nicht gefallen lassen dürfe, dass überall neue Atomkraftwerke aus dem Boden gestampft werden konnten. Einige in der beginnenden Anti-Atom-Bewegung fanden es laut Dickel legitim, nicht nur auf friedlichen Protest zu setzen.
Situation läuft aus dem Ruder
Noch einen Monat vor der "Schlacht" hatte es eine friedliche Bauplatzbesetzung in Grohnde gegeben. Die Polizei habe sich zurückgehalten. Am 19. März jedoch lief die Situation dann völlig aus dem Ruder. Einige Polizisten waren auch in Brokdorf eingesetzt gewesen und hatten dort gewalttätige Auseinandersetzungen hautnah miterlebt. Ihnen gegenüber standen fest entschlossene Demonstranten, die den mittlerweile durch einen Bauzaun geschützten Bauplatz besetzen wollten, berichtet Dickel. Für Niedersachsens damaligen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU) waren solche Atomkraft-Gegner vor allem eines: "Verbrecher".
Bauzaun eingerissen
Als die zum Teil mit Gasmasken und Helmen ausgerüsteten Demonstranten einen meterlangen Teil des rund 1,8 Millionen Mark teuren Bauzaunes eingerissen hatten, habe die Polizei ihre zurückhaltende Taktik aufgegeben. "Mit Eisenstangen wurde durch den Bauzaun gestochert, um die Demonstranten abzuwehren", erinnert sich Dickel. Dabei seien ebenso schwere Verletzungen in Kauf genommen worden wie beim Einsatz berittener Polizisten, die mit langen Stöcken auf die Demonstranten eingeschlagen hätten.
Jung und schlecht ausgerüstet
Dass die Polizei so agierte, hatte nach der Einschätzung von Bernhard Gelderblom ihre Ursache auch in mangelnder Erfahrung. Der Polizeiführer sei gerade einmal 24 Jahre alt gewesen und viele der Bereitschaftspolizisten zwischen 18 und 19 Jahren alt. Außerdem sei die Polizei zum eigenen Schutz schlecht ausgerüstet und auch nicht gut auf eine solche Situation vorbereitet gewesen, so Gelderblom. Das hätten ihm damals eingesetzte Beamte bestätigt.
44 Jahre danach wird Grohnde abgeschaltet
Fast wie durch ein Wunder ist damals niemand ums Leben gekommen. Nach der "Schlacht" ebbte der Protest ab. Zwar gab es immer wieder auch größere Demonstrationen, aber solch gewalttätige Auseinandersetzungen habe es in Grohnde nicht mehr gegeben, sagt Peter Dickel. 1985 ging das AKW in Grohnde ans Netz. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 kassierte die Bundesregierung die 2009 beschlossene Laufzeitverlängerung für die deutschen Atommeiler. 2021, zehn Jahre nach Fukushima, wird das AKW Grohnde endgültig abgeschaltet - 44 Jahre nach der "Schlacht von Grohnde".