Hauptschule - welche Zukunft hat die Schulform?
Anders als in manch anderen Bundesländern gibt es in Niedersachsen noch Hauptschulen. Aber es werden weniger. In diesem Teil der NDR Doku-Reihe "Wer sind die?" geht es um Vorurteile gegenüber Hauptschülern.
In Wolfsburg-Fallersleben stehen Gymnasium, Haupt- und Realschule wie an vielen Orten in Niedersachsen nah beieinander. Und doch zeigt sich bereits auf den ersten Blick ein deutlicher Unterschied. Während Realschüler und Gymnasiasten in einem Neubau für mehr als 52 Millionen Euro unterrichtet werden, müssen die Hauptschüler mit Unterricht in Containern leben. Die Stadt Wolfsburg hat sie gekauft. Als Dauerlösung, weil in den neuen Gebäuden kein Platz ist. Schulleiter Nils Obert ärgert das, er befürchtet schon lange, dass seine Schulform als nicht zukunftsfähig angesehen wird: "Ich habe das Gefühl, die Politik möchte uns langsam ausradieren", sagte der Schulleiter im Gespräch mit dem NDR in Niedersachsen.
Bundesländer haben Hauptschule abgeschafft
Andere norddeutsche Bundesländer wie Hamburg oder Schleswig-Holstein haben die eigenständige Schulform bereits abgeschafft. In Niedersachsen gibt es aktuell 47 reine Hauptschulen. 2011 waren es noch 122 - mehr als doppelt so viele. Ein deutlicher Rückgang, auch wenn 50 weitere Schulen auch einen Hauptschulzweig anbieten, zum Beispiel in Oberschulen oder Kooperativen Gesamtschulen.
Vorurteile gegenüber Hauptschülern: Dumm, faul, chancenlos
Ben Böhnke besucht die Hauptschule in Fallersleben. Er ist damit einer von mehr als 15.000 Hauptschülern in Niedersachsen. Der 16-Jährige geht in die 9. Klasse. Er wechselte von der Realschule auf die Hauptschule, weil seine Noten zu schlecht wurden. "Ich dachte damals, ich habe es echt verbockt", sagte Böhnke. Noch immer begegnen Hauptschülerinnen und Hauptschülern Vorurteile. Sie gelten noch allzu oft als dumm, faul oder chancenlos.
Hauptschule als Resterampe?
Die Zahl der Hauptschüler steigt in Niedersachsen von Jahrgang zu Jahrgang an. Sind die fünften Klassen meist noch einzügig, sind es im neunten, dem Abschlussjahrgang, oft drei Klassen. Stephanie Funke ist Lehrerin an der Hauptschule Fallersleben. Ihrer Meinung nach sehen andere Schulen die Hauptschule oft auch als Resterampe an: "Wenn sich jemand nicht toll benimmt, aus der Norm schlägt, oder ein bisschen zu anstrengend ist, dann heißt es grundsätzlich erstmal: Geh runter zur Hauptschule", sagte Funke. Was sie dabei ärgert, ist, dass Kinder und Jugendliche so ausgegrenzt werden: "Was macht das mit einem Kind, wenn es merkt, keiner will es haben?"
Hauptschüler brauchen mehr Zeit
"Natürlich haben hier viele ein Päckchen zu tragen", sagte die Lehrerin. Umso wichtiger sei es, dass die Schule für die Jugendlichen ein Ort sei, vor dem sie keine Angst haben. Zusammenhalt werde hier in Fallersleben großgeschrieben. Mobbing sei im Klassenverband kaum ein Thema, bestätigte auch Schulleiter Obert. Der gesellschaftliche Blick auf Hauptschulen leide unter einem schlechten Image.
"Wenn ich im Radio einen Spot höre, du kannst bei uns Praktikum machen und welchen Abiturschnitt du hast, ist uns egal, da kann ich nur müde drüber lächeln", sagte der Schulleiter. "Ich bin aber im Endeffekt eher traurig und enttäuscht, weil ich mir denke: Wie kann ich so einen Werbespot machen? Das ist doch völlig demotivierend." Viele Menschen sprächen über Hauptschulen mit einem fertigen Bild: "Dabei waren sie selbst noch nie in einer Hauptschulklasse und haben die Jugendlichen erlebt", sagte Obert. Er fordert von Politik und Gesellschaft mehr Anerkennung.
Kultusministerium: Hauptschulen wichtige Säule
Auf Anfrage des NDR in Niedersachsen machte das Kultusministerium im Sommer noch deutlich: Es gebe keine Planungen, Veränderungen an der Schulstruktur vorzunehmen. Hauptschulen seien eine wichtige Säule im breit aufgestellten Schulangebot in Niedersachsen. Die Arbeit dort werde wertgeschätzt, es gebe keine Abstufungen.
Schulleiter Obert hingegen spürt davon zu wenig. Für seine Schule sei das schon am Gebäude festzumachen, dass man dort ein Gefühl der Benachteiligung erlebe. "Und wenn man sich mit den Schülerinnen und Schülern unterhält, die wirklich sagen: Wir sind doch die Verlierer des Systems, wofür sollen wir uns jetzt hier noch Mühe geben?" Die Stadt Wolfsburg sieht in der Unterbringung keine Abwertung der Hauptschule. Auf NDR Anfrage schreibt sie, die Hauptschule in Fallersleben sei ein integraler Bestandteil der Wolfsburger Schullandschaft und werde stetig weiterentwickelt und gefördert.
Bildungsexperte: "Sie können die Besten sein"
Auch Bildungsexperten in Niedersachsen halten Hauptschulen für eine wichtige Schulform, die erhalten bleiben muss. Darunter Kurt Czerwenka aus Lüneburg, der sich seit Jahrzehnten mit der Schulform beschäftigt. Er beobachte mit Bauchschmerzen, dass immer mehr Hauptschulen in Gesamtschulen übergehen: "In Hauptschulen haben Schüler, die an anderen Schulformen untergehen, die Möglichkeit, die Besten zu sein", sagte Czerwenka. Erfolgserlebnisse seien gerade für die vermeintlich Schwächsten enorm wichtig. Die individuelle Förderung, angepasst an das Lerntempo der einzelnen Schülerinnen und Schüler, bewerten auch Lehrkräfte als elementar und erhaltenswert.
Hauptschüler wünschen sich Erhalt ihrer Schulform
Auch die meisten Hauptschülerinnen und Hauptschüler wollen, dass ihre Schulform eigenständig erhalten bleibt. Auch Ben Böhnke aus Fallersleben sagte, dass er hier sein Potenzial am besten ausschöpfen könne. "Auch nach der Hauptschule stehen einem viele Türen offen", sagte der Schüler. Er will Mechatroniker werden. Vorurteile gegen Hauptschüler sind für ihn mittlerweile keine große Sache mehr. Denn er und seine Mitschüler wissen, was sie an der Hauptschule haben.
Die neue NDR Dokumentation "Wer sind die Hauptschüler?" ist auch in der ARD Mediathek abrufbar.