Zensus 2022: So viel mehr Wohnraum haben Rentner in Ihrer Gemeinde
Eine exklusive Datenauswertung zeigt: In Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Bremen leben Senioren im Schnitt auf 20 Quadratmetern mehr als der Durchschnittsbürger. Oft lohnt ein Umzug nicht, manchmal fehlt der Wille.
Karin Hüttl aus Flensburg lebt mit ihrem Mann im eigenen Haus, die vier erwachsenen Kinder sind inzwischen ausgezogen. 120 Quadratmeter Wohnfläche, Wintergarten, großes Grundstück, zentral gelegen, energetisch saniert, geringe Nebenkosten. Ein Traum, zu gut zum Hergeben. Die 67-jährige ehemalige Bauingenieurin würde sich gerne verkleinern, sucht jedoch vergeblich. "Es ist leider so, dass wir für ein kleineres Objekt mehr zahlen müssten als wir für unser großes Haus bekämen", sagt Katrin Hüttl. "Allein die Erwerbsnebenkosten sind so derartig hoch, 13 Prozent. Das funktioniert einfach nicht."
So oder so ähnlich dürfte es vielen Seniorinnen und Senioren gehen. Denn blickt man auf aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamts, wird deutlich: Fast überall im Norden haben Senioren mehr Platz als der Durchschnitt der Bevölkerung. Besonders krass ist dieser Effekt im schleswig-holsteinischen Högel: Reine Seniorenhaushalte haben hier mehr als doppelt so viel Pro-Kopf-Wohnfläche wie der durchschnittliche Haushalt in der Gemeinde.
Norddeutschland: 42 Prozent mehr Platz für Senioren
Der durchschnittliche Norddeutsche hat 48 Quadratmeter Wohnraum. Im typischen Seniorenhaushalt sind es pro Kopf 68 Quadratmeter, also 42 Prozent mehr Platz. Auf der Deutschlandkarte deutlich sichtbar: Im Westen ist dieser Effekt oft stärker als im Osten. In Mecklenburg-Vorpommern haben Senioren etwa 25 Prozent mehr Wohnraum als durchschnittlich, in Hamburg ist der Effekt doppelt so stark. "Das liegt an der Historie unseres Landes", sagt die Wohnungsmarkt-Expertin Anna Maria Müther vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in Bonn. "Die DDR hatte eine ganz andere Wohnungspolitik als die alte Bundesrepublik. Wohneigentum war in der DDR unüblich, und direkt nach der Wiedervereinigung konnten die Haushalte im Osten diese Unterschiede nicht so schnell aufholen", erklärt die Expertin.
Wenige Einfamilienhäuser im Osten
So gibt es im Osten historisch bedingt weniger große Einfamilienhäuser, in denen Senioren auch dann wohnen bleiben, wenn die Kinder längst aus dem Haus sind. Denkbar ist auch, dass ein Umzug niederschwelliger ist, wenn nur ein Mietvertrag gekündigt, aber nicht gleich ein ganzes Haus verkauft werden muss. Dass jedoch auch der Wechsel aus einer größeren in eine kleinere Mietwohnung nicht unbedingt leicht ist, zeigt das Beispiel von Heidi Lang aus Braunschweig.
Wenn die Wohnung zu groß wird
Die 65-Jährige ist Mieterin und würde - wie Karin Hüttl aus Flensburg - ebenfalls gerne in eine kleinere Bleibe umziehen. Die pensionierte Lehrerin lebt im östlichen Ringgebiet, einem beliebten Viertel in Braunschweig. Hier hat sie alles, was sie mag, ganz in ihrer Nähe; das Theater zum Beispiel oder ihre Freundinnen. Eigentlich perfekt. Aber: Sie findet ihre Wohnung inzwischen viel zu groß. Sie lebt allein auf rund 90 Quadratmetern.
Als Heidi Lang vor gut 20 Jahren dort einzog, hatte sie ihren kleinen Sohn bei sich, und brauchte als Lehrerin einen gesonderten Arbeitsraum. Die Größe war für diese Lebensphase ideal. Jetzt ist der Sohn aus dem Haus, die Arbeit passé - und viel Platz übrig. Eine Untervermietung scheidet aus, das Bad ist winzig, ein Raum nur Durchgangszimmer. Und nun?
"Ich würde wirklich sehr gerne in eine nette Zwei-Zimmer-Wohnung ziehen", sagt Heidi Lang. "Aber ich finde nichts Passendes. Alles, was ich sehe, ist entweder nicht in meinem Viertel oder qualitativ schlechter oder doppelt so teuer wie meine jetzige Wohnung." 650 Euro kalt zahlt Heidi Lang aktuell, für die Größe und Lage ein Traum.
Umfrage: 80 Prozent klagen über zu wenige günstige Wohnungen
Heidi Lang aus Braunschweig und Karin Hüttl aus Flensburg sind beide Mitglied der #NDRfragt-Community und haben an einer Umfrage zum Wohnungsmarkt teilgenommen. Ein Ergebnis der nicht repräsentativen Umfrage: Fast 80 Prozent der rund 17.000 Teilnehmer sagen, es fehle an bezahlbarem Wohnraum in ihrer Region. Das Problem betrifft natürlich auch umzugswillige Seniorinnen und Senioren.
Weniger Raum bei höheren Kosten: Das bremst Umzugswillige
Die Mieten sind in den vergangenen Jahren rasant gestiegen, die Immobilienpreise mancherorts gar explodiert. Ein Umzug würde für viele Menschen mit Altmietverträgen oder abbezahltem Eigentum schlichtweg bedeuten, nicht nur weniger Raum, sondern auch weniger Geld zu haben.
Hamburg: Mieten stark an Alter der Mietverträge gebunden
In Hamburg zahlen Haushalte, in denen nur Senioren leben, im Schnitt 514 Euro kalt. Sobald jemand Jüngeres im Haushalt lebt, werden es direkt über 600 Euro. Eine Preissteigerung, die stark mit dem Alter der Mietverträge zusammenhängt.
Die aktuell hohen Wohnkosten verstärken etwas, das in der Forschung als Remanenzeffekt bezeichnet wird. "Damit bezeichnet die Fachwelt das Phänomen, dass Menschen in den Wohnungen und Häusern bleiben, die sie einmal als Familie bewohnt haben, selbst wenn die Kinder längst aus dem Haus sind", erklärt die Forscherin Anna Maria Müther vom BBSR. Und die demografische Entwicklung Deutschlands wird in den kommenden Jahren laut Müther dafür sorgen, dass dieses Phänomen immer mehr zum Tragen kommt. "Jetzt erreichen die geburtenstarken Jahrgänge das für diesen Effekt entscheidende Alter."
Überfluss versus Wohnungsnot
Und so wird es in Zukunft immer mehr ältere Menschen geben, die verwaiste Kinderzimmer und ungenutzte Partykeller übrig haben. Während auf der anderen Seite viele Menschen nach einem ausreichend großen und bezahlbaren Zuhause suchen, scheitern und resignieren.
Unfreiwilliger Überfluss versus Wohnungsnot. Lösungsideen für dieses Dilemma gibt es einige - die meisten davon verbleiben in der Theorie: Steuer-Anreize für Menschen mit wenig Pro-Kopf-Wohnfläche zum Beispiel. Alters-WGs. Eine Untervermietung an im Haushalt helfende Studierende. Umzugsprämien. Auch der Wohnungstausch ist eine Idee.
Wohnungstausch: Preismitnahme bei Hamburger SAGA
Die Hamburger SAGA bietet ihren Kunden so ein Wechselmodell an. Das städtische Unternehmen ist mit über 138.000 Wohnungen Hamburgs größter Vermieter, fast jeder siebte Hamburger wohnt in einer SAGA-Wohnung - viele potenzielle Tauscher. Die durchschnittliche Nettokaltmiete pro Quadratmeter liegt mit 7,07 Euro gut zwei Euro unter dem Hamburger Schnitt von 9,16 Euro (Stand jeweils: 2022), ist also ohnehin relativ günstig. Und mit einem speziellen Entgegenkommen garantiert die SAGA auch, dass ein Wechsel von Groß zu Klein nicht finanziell bestraft wird: "Ältere und mobilitätseingeschränkte Menschen, die innerhalb der SAGA in eine kleinere Wohnung vergleichbarer Art und Güte wechseln, behalten ihren bisherigen Quadratmeter-Mietpreis", sagt Sven Wittstock, Geschäftsbereichsleiter Immobilien. "Diese Sorge nehmen wir den Kunden also direkt." Außerdem unterstütze man die Tauschwilligen durch Verzicht auf Kündigungsfristen und mit persönlicher Beratung, so Wittstock. Die Resonanz ist aber trotz dieser Handreichungen gering. Wittstock hat aus langjähriger Erfahrung eine Erklärung: "Ältere Menschen wollen oft nicht umziehen, sie haben sich eingefunden in ihrer Nachbarschaft, sind dort eng verwurzelt und bleiben, solange es geht."
"Einen alten Baum verpflanzt man nicht"
Es scheint also weitere Faktoren zu geben, die Ältere in ihren angestammten vier Wänden halten: die Gewohnheit, vielleicht auch Nostalgie. Das Sprichwort "Einen alten Baum verpflanzt man nicht" erzählt davon.
Ein SAGA-Pilotprojekt machte dies kürzlich besonders deutlich. Das Unternehmen hatte bei älteren Menschen für ein Neubauprogramm im Hamburger Stadtteil Lurup geworben. Die Offerte: neue, kleinere und barrierefreie Wohnungen mit Pluspunkten wie einem Nachbarschaftstreff. Die Angeschriebenen: SAGA-Haushalte im Viertel, in denen Menschen über 65 Jahren auf mehr als 70 Quadratmetern und in mehr als drei Zimmern leben. "Was wir angeboten haben, war ein Rundum-Sorglos-Paket", sagt Wittstock. "Und trotzdem war das Ergebnis leider ernüchternd: Nur zwei von 180 angeschriebenen Menschen haben sich schließlich für einen Umzug in die neue Wohnanlage entschieden."