Geflüchtete Ukrainer im Norden: Gehen oder bleiben?
Mit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 haben Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Zuhause verloren. Sie verließen ihre Heimat, viele fanden in Deutschland Zuflucht. Nun stellen sich einige die Frage, wann sie zurück in ihre Heimat können. Einige wollen aber auch hier bleiben.
Eines wird Nikita Sema ganz besonders an Hamburg vermissen: den friedlichen Himmel. Der Hamburger Regen hingegen wird ihm überhaupt nicht fehlen. Der heute 16-jährige Ukrainer floh kurz nach Kriegsausbruch im Frühjahr 2022 zusammen mit seiner Mutter und seinem siebenjährigen Bruder aus seiner Heimatstadt Sumy im Nordosten des Landes, rund 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Jetzt kehrt er wieder in seine Heimat zurück.
Ein bisschen hat sich Nikita immer wie auf der Durchreise gefühlt, richtig angekommen ist er in Deutschland nie. Im Kulturladen St. Georg feiert er mit den neuen ukrainischen Freunden seinen Abschied. Sie haben ein paar Lieder für ihn vorbereitet und eine Piñata mit Grüßen, Geschenken und Konfetti gefüllt. Das Pappbonbon muss er erst einmal mit einem Stock zerschlagen. Snoopy-Socken mit Regenmotiv sollen ihn an das "typische Hamburger Wetter" erinnern. Nikita lacht viel, scherzt immer wieder. Er wirkt zumindest nach außen unbeschwert – seine vom Krieg gebeutelte Heimat scheint an diesem Abend weit entfernt zu sein. Angst, zurückzukehren, hat er offenbar nicht.
Der Krieg ist in der Nachbarschaft angekommen
Für Nikita hat der Krieg in der Ukraine nicht erst mit dem 24. Februar 2022 begonnen, sondern schon mindestens seit der russischen Besetzung der Krim 2014. Sein alltägliches und bis dahin sorgenfreies Leben hatte das jedoch nicht berührt. Nikita erlebt eine bis dahin normale Kindheit. Er geht in die Schule, züchtet Blumen, liebt die Schauspielerei und steht sogar mit zwölf Jahren schon auf der Bühne eines professionellen Theaters.
"Alles schien in Ordnung zu sein, bis Russland zu mir nach Hause kam, in mein Land, in meine Stadt", sagt Nikita. Morgens um vier Uhr weckt ihn seine Mutter an jenem 24. Februar mit der Nachricht von einem großangelegten Angriff Russlands. Den ganzen Winter sei darüber gesprochen worden, jetzt wird aus den Spekulationen Realität. Kampfjets rauschen über ihr Hausdach hinweg, werfen Bomben in ihrer Heimatstadt ab. Die Detonationen spüren sie im Keller seiner Großeltern. "Wir haben verstanden, dass jederzeit alles im Haus einfach verbrannt werden kann, weil es von einer Rakete oder einer Bombe getroffen werden könnte", sagt Nikita. Die Eltern beschließen, dass Mutter, Bruder und Nikita die Ukraine verlassen, um nach Deutschland zu flüchten.
1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer suchen Schutz in Deutschland
Der russische Angriffskrieg vertreibt rund vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in andere EU-Länder. 1,2 Millionen von ihnen kommen nach Deutschland. Sie alle haben hier einen vorübergehenden Schutz. Einige wollen so schnell wie möglich wieder zurück. "Das ist sicherlich eine der schrecklichsten Folgen, dass Millionen Familien für mindestens zwei Jahre auseinandergerissen wurden", sagt Nikita. Auch seine Familie muss sich trennen. Sein Vater muss zu Hause bleiben wie alle ukrainischen Männer unter 60 Jahren. Weil er im Energiesektor arbeitet, wurde er bislang nicht eingezogen.
Nikita, seine Mutter und sein Bruder verlassen das Land ohne den Vater und kommen erst mal für rund zwei Wochen bei einer Bekannten in Hamburg unter. Danach ziehen sie nach Hamburg-Bergedorf. Die ersten Tage in der Fremde hat Nikita noch genau in Erinnerung: "Ich saß buchstäblich zwei Wochen lang auf der Couch, schaute aus dem Fenster, las die Nachrichten über die Ukraine. Ich hatte keine Kraft, etwas zu tun." Nachdem der erste Schock verarbeitet ist, besucht er eine Demonstration für Frieden in der Ukraine. Ihm wird klar: Er will den Deutschen und Europäern so gut es geht erklären, wie es seinen Landsleuten geht und mit welchem Schicksal sie nun zu kämpfen haben. Zu Beginn bleibt die Hoffnung, dass sein Aufenthalt in Hamburg nur von kurzer Dauer sein wird. Ein paar Wochen vielleicht. Im Mai würden sie wieder zurück in ihrer Heimatstadt sein, war sich Nikita zu Beginn des Krieges noch sicher. Monat für Monat vergeht und mit jedem schwindet die Hoffnung ein bisschen mehr, dass die ukrainischen Streitkräfte ihr Heimatland schnell wieder zurückerobern können.
Nikita unterstützt die Heimat aus der Ferne
Tatenlos die Nachrichten beobachten will Nikita währenddessen nicht. Er sammelt Spenden für verschiedene Stiftungen. Auch zwei Drohnen für die ukrainische Armee hat Nikita mit Spendengeldern kaufen können. Die zweite will er bei seiner Rückkehr selbst überreichen. Rund eineinhalb Jahre lang hat Nikita in Hamburg eine Vorbereitungsklasse besucht für Schülerinnen und Schüler aus dem Ausland, die noch nicht gut genug Deutsch sprechen, um am Regelunterricht teilnehmen zu können. Immer wieder denkt er aber über eine Rückkehr nach.
Kurz bevor er seinen ersten deutschen Schulabschluss machen könnte, beschließt er, wieder in die Ukraine zurückzugehen, um dort die Schule zu beenden. Im Herbst will er dann auf eine Schauspielschule gehen. Mit der Rückkehr in die Heimat begleitet Nikita auch ein Stück weit die Angst, in einigen Jahren selbst eingezogen zu werden und die Ukraine an der Front verteidigen zu müssen. Wann das sein könnte, ist aktuell unklar. Das ukrainische Parlament hat zuletzt einen ersten Entwurf der Regierung zur Neuauflage des Mobilisierungsgesetzes abgelehnt. Dieser sieht vor, dass alle Männer ab 18 Jahren einen militärischen Grundwehrdienst absolvieren müssen. Sie sollen mit anschließend 25 statt 27 Jahren für den Kriegsdienst eingezogen werden können. Nikita sagt, er wäre bereit für sein Land zu kämpfen, auch wenn es gegen seine Natur sei. "Ich möchte Schauspieler werden. Ich bin ein Mensch der Kultur. Ich wurde nicht dafür geboren, meine Hände mit Blut zu beschmutzen."
Familie Haliuk will die friedliche neue Heimat nicht mehr verlassen
Anders als Nikita geht es der Familie Haliuk. Für Roman und Maria und ihre fünf Kinder verschwimmt die Grenze zwischen alter und neuer Heimat. Sie wohnen nun in einem Häuschen in Hamburg-Neugraben. Die siebenköpfige Familie will nicht mehr zurück - die Kinder lernen Deutsch, sie sollen hier eine glückliche Zukunft ohne Krieg haben. "Wir wussten, dass es für uns und die Kinder sehr schwierig werden würde über die Runden zu kommen, weil wir so viele sind. Und es war nicht leicht für uns. Wir haben auch Angst um das Leben unserer Kinder gehabt", sagt Maria Haliuk. Wegen der fünf kleinen Kinder durfte auch der Vater die Ukraine verlassen.
Die ukrainische Kirchengemeinde ganz in der Nähe ihres neuen Zuhauses gibt der Familie Halt in einer unruhigen Zeit. Roman Haliuk engagiert sich ehrenamtlich in der Kirche. Auch seine fünf Kinder singen dort im Chor. Dass sie einmal nach Deutschland ziehen und hier ein neues Leben beginnen, das war niemals der Plan der Familie. Bis russische Raketen ihr Zuhause in der 230.000-Einwohnerstadt Iwano-Frankiwsk im Südwesten der Ukraine bedrohen. Ein Mittagsrestaurant, das Maria zwei Jahre zuvor eröffnet hatte, mussten sie nach Kriegsbeginn schließen.
Neues Leben ohne Angst
In Hamburg wollen sie nun ein neues Leben aufbauen, ganz ohne Angst. Auch, wenn ihre Familie und Freunde nach wie vor in der Ukraine sind, sieht die Familie Haliuk ihre Zukunft in Deutschland. Sie wollen hier ankommen, auch wenn der Krieg ein Stück ihres Lebens herausgerissen hat. "Wir verstehen, dass unsere Familie dort geblieben ist. Es hat sich so ergeben, dass wir gegangen sind, obwohl wir nie irgendwo hingehen wollten", sagt Roman Haliuk.
Ihre Entscheidung steht dennoch: Sie wollen die Sprache besser lernen und so schnell es geht auch hier arbeiten. Roman will wieder in seinem gelernten Beruf als Tischler arbeiten, Maria möchte sich am liebsten zur Erzieherin ausbilden lassen.
Hoffnung auf eine befreite und friedliche Ukraine
Pläne für die Zukunft hat auch Nikita Sema. Er will, so schnell es geht wieder, im Theater auf der Bühne stehen, auch wenn die Proben oder Vorstellungen eventuell durch einen Luftalarm unterbrochen werden und alle in den Luftschutzbunker fliehen müssen. Seine Ankunft zu Hause hat er bereits einige Tage vor der Reise zurück in die Heimat genau vor Augen. "Ich werde auf meinem Bett sitzen und den nicht friedlichen, aber hoffentlich sonnigen Himmel betrachten." Mit im Gepäck: die Hoffnung von einer befreiten und friedlichen Ukraine.