Wie haben sich die Tempi in der klassischen Musik entwickelt?
Das Tempo in der klassischen Musik ist ein wichtiges Diskussionsthema. Wie hat es sich eigentlich entwickelt, wann kam das Metronom als Hilfestellung und wie haben Komponisten vorher das Tempo festgelegt?
"Beethoven wurde ja von allen viel zu langsam gespielt", meinte der 2019 verstorbene Dirigent Michael Gielen. Beethoven muss viel langsamer gespielt werden, fand dagegen eine Studie aus dem Jahr 2021. Und jetzt sagt ein Wissenschaftler aus Lübeck: "Nein, gerade der späte Beethoven gehört eigentlich viel schneller." Ein unendliches, aber auch ein wichtiges Diskussionsthema: Das Tempo in der Musik.
Metronom wurde 1814 erfunden
Die Musik imitiert ein gleichmäßiges Ticken, als wäre das Orchester ein mechanisches Gerät, im Allegretto scherzando aus Beethovens achter Sinfonie. Eine ironische Verneigung des Komponisten vor dem klackernden Metronom, damals gerade frisch erfunden. 1814 hat der Mechaniker Johann Nepomuk Mälzeldiese kleine Maschine konstruiert. Die Idee, das Tempo von Musik genau zu bemessen und entsprechend festzulegen, ist also historisch gesehen noch ziemlich neu. Vor der Erfindung des Metronoms gab es jahrhundertelang andere Methoden. Von der Antike bis ins Mittelalter galt der Pulsschlag des Menschen als die wichtigste Orientierung, auf die sich das musikalische Tempo bezieht.
Um 1600 wird Tempo zum Gestaltungsmittel
Erst um 1600 wird das Tempo zu einem eigenen Gestaltungsmittel. Die Komponisten fangen an, ihre Vorstellungen dazu festzuhalten. Im Vorwort zu seiner Sammlung Fiori musicali schreibt etwa Girolamo Frescobaldiausdrücklich: "Die Anfänge aller Toccaten können adagio gespielt werden, und dann in den Läufen allegro." Adagio heißt etwa bequem oder behaglich, Allegro so viel wie rasch und munter. Das sind eigentlich Begriffe aus der italienischen Alltagssprache - aber sie werden mit der Zeit zum Standardvokabular der Klassik, um Tempo und Ausdruck eines Stücks vorzugeben. Mozart war das zum Beispiel sehr wichtig, er hat über 40 Abstufungen von Allegro verwendet: Molto allegro, allegro assai, allegro con spirito, und so weiter.
Interpretation von Tempo unterschiedlich
Die Erfindung des Metronoms zu Beginn des 19. Jahrhunderts eröffnet neue Möglichkeiten, ein Tempo präzise vorzuschreiben. Aber schon gehen neue Diskussionen los. Hat Beethoven die Metronomzahlen vielleicht falsch abgelesen? Oder ein kaputtes Metronom benutzt? Die Interpretationen sind jedenfalls alles andere als einheitlich. Nehmen wir das Beispiel der Hammerklaviersonate. Bei Maurizio Pollini klingt der Beginn elegant und frisch, bei Pierre-Laurent Aimardeher majestätisch. Und bei Glenn Gouldklingt er ein bisschen schläfrig.
Langsamstes Stück von John Cage, schnellstes Stück ist der Hummelflug
Mit dem Tempo ändert sich auch der Charakter. Das reizen viele Komponistinnen und Komponisten aus, und zwar in beide Richtungen. Das wohl langsamste Stück der Musikgeschichte ist wahrscheinlich ein auf 639 Jahre angelegtes Orgelwerk von John Cage, mit der Vorschrift "as slow as possible", der nächste Akkordwechsel findet im Februar 2024 statt. Eins der schnellsten Stücke dürfte die Klavierbearbeitung des Hummelflugs von Rimsky-Korsakoff sein, gespielt von der Pianistin Yuja Wang. Das Tempo ist so irre, dass die einzelnen Töne fast schon ineinander verschwimmen.
Das menschliche Ohr kann nur bis zu 20 Töne pro Sekunde auseinanderhalten, alles darüber hinaus hören wir als Kontinuum. Diesen Effekt macht sich György Ligetizunutze, in seinem Poème Symphonique. Das Stück ist für 100 Metronome geschrieben, die in verschiedenen Geschwindigkeiten ticken. Das Gewirr aus hundert verschiedenen Tempi überlagert sich zu einem konstanten Rasseln. Beethoven hätte bestimmt seinen Spaß dran gehabt.