Kirchenaustritte: Bedrohen sinkende Mitgliederzahlen die Kirchenmusik?
Seit 1990 sind die Mitgliederzahlen der großen Kirchen in Deutschland von mehr als 72 Prozent auf unter 50 Prozent gefallen. Damit sinken auch die Kirchensteuern - was heißt das für die Kirchenmusik?
Die Zahlen der Hochrechnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sind eindeutig und der Trend geht weiter: Den Kirchen laufen die Mitglieder davon. Bei der Chorprobe der St. Johanniskirche in Lüneburg ist davon allerdings nichts zu spüren: 60 aufgeregte Kinder stehen dort im Altarraum für die letzte Chorprobe vor dem Auftritt beim Gemeindefest.
Steigende Zahl an Chormitgliedern in Lüneburg
Mehrere hundert Menschen drängen sich in den Sitzreihen. Die Singschule ist sehr gut besucht, freut sich Leiterin Frauke Heinze: "Es sind derzeit rund 150 Jungen und Mädchen, die Jüngste ist vier und der Älteste ist 20 geworden. Damit hat sich die Zahl der jungen Sängerinnen und Sänger in den vergangenen Jahren sechs Jahren fast verdreifacht."
Kein Konfessionszwang beim Chorsingen
Bei den Kirchenchören spiele es überhaupt keine Rolle, ob die Mitglieder in der Kirche sind oder nicht, sagt Joachim Vogelsänger, Kantor in St. Johannis. Das gilt nicht nur für den Kinderchor, sondern auch für die verschiedenen Erwachsenen-Chöre: "Wir fragen bei den Chormitgliedern nicht nach der Kirchenmitgliedschaft. Wer gerne singen möchte, wer gerne im Wesentlichen geistliches Repertoire singen möchte, der ist in unseren Chören herzlich willkommen. Es gibt keine Mitgliedsbeiträge für Nicht-Kirchenmitglieder. Wir fragen schlicht nicht danach."
Um die Musikkultur der St. Johanniskirche in Lüneburg macht sich Vogelsänger keine Sorgen. Hier gibt es weiterhin verschiedene Chöre und sehr viele Konzerte. Lüneburg sei Zuzugsgebiet, habe ein breites Publikum, deswegen seien hier noch keine Stellen im Bereich Kirchenmusik gestrichen worden.
Die professionelle Kirchenmusik auf dem Land stirbt aus
Ganz anders sieht es auf dem Land aus, sagt Vogelsänger. Als Kirchenmusikdirektor berät er 160 Kirchengemeinden im Umkreis von Lüneburg. In seinen 40 Berufsjahren hat er schon viele Stellenstreichungen begleitet, zum Beispiel im Kirchenkreis Lüchow-Dannenberg: "An diesen Kirchen findet keine professionelle Kirchenmusik mehr statt, die einstmals große Kantoreiarbeit, die es dort gab, ist komplett zum Erliegen gekommen. Es wir dort im Gottesdienst auf nebenberuflichem Amateurniveau Orgel gespielt. Da sind tatsächlich Gruppen eingegangen, die heute schlicht nicht mehr existieren. Chorsänger haben sich anders orientiert oder singen eben gar nicht mehr. Das ist ein Verlust."
Zu wenige professionelle Chorleiter und Organisten
Lüchow-Dannenberg ist kein Einzelfall, sagt Vogelsänger. Die Kirchenmusik sei stellenmäßig schon jetzt am Limit. Teilweise gebe es in Kirchenkreisen, die aus 25 bis 30 Gemeinde bestehen, nur noch einen hauptberuflichen Kirchenmusiker. "Weniger geht nicht. Wenn der auch noch fehlt, dann gibt es überhaupt niemanden mehr, bei dem zum Beispiel interessierte junge Menschen Orgelunterricht nehmen können." Dann gebe es keinen professionellen Chor mehr, der den einen oder anderen vielleicht locke, der sage: "Chorleiter ist ein interessanter Beruf. Wenn dieses Minimum unterschritten würde, an dem wir jetzt in fast jedem Kirchenkreis sind, dann schneiden wir uns ein ganz wichtiges Bein in der Kirche ab. Denn eines der Standbeine ist die Kultur - und die wird repräsentiert durch die professionell ausgebildeten Kirchenmusiker."
Der Kulturbeauftragte des Rates der EKD, Johann Hinrich Claussen, kennt das Problem. Er sieht darin aber auch eine Chance: "Natürlich ist immer alles gefährdet, wenn weniger Geld da ist. Auf der anderen Seite geht es nicht immer nur um Geld, es geht darum, dass man miteinander in Beziehung ist. Da ist Kirchenmusik eine wunderbare Brücke. Wenn Beziehungen stabil sind und das, was man gemeinsam tut, lockend genug ist, dann findet man auch Geld."
Hoffnung auf Spenden und Kooperationen
Claussen ist überzeugt, dass es Wege gibt, vielfältige Kirchenmusik anders zu finanzieren. Er sieht Möglichkeiten in Kooperationen mit Kitas und Schulen, aber auch durch die Unterstützung von Stiftungen und Vereinen. Das Sommerkonzert der St. Johanniskirche in Lüneburg war auf jeden Fall ein voller Erfolg. Im Klingelbeutel ist viel Geld für die weitere Arbeit der Singschule zusammengekommen. Hier geht die musikalische Arbeit trotz der Kirchenaustritte unvermindert weiter.