Eine Kirchenorgel © NDR Foto: Katrin Schwier
Eine Kirchenorgel © NDR Foto: Katrin Schwier
Eine Kirchenorgel © NDR Foto: Katrin Schwier
AUDIO: Kirchenaustritte: Bedrohen sinkende Mitgliederzahlen die Kirchenmusik? (4 Min)

Kirchenaustritte: Bedrohen sinkende Mitgliederzahlen die Kirchenmusik?

Stand: 27.06.2023 06:00 Uhr

Seit 1990 sind die Mitgliederzahlen der großen Kirchen in Deutschland von mehr als 72 Prozent auf unter 50 Prozent gefallen. Damit sinken auch die Kirchensteuern - was heißt das für die Kirchenmusik?

von Katrin Schwier

Die Zahlen der Hochrechnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sind eindeutig und der Trend geht weiter: Den Kirchen laufen die Mitglieder davon. Bei der Chorprobe der St. Johanniskirche in Lüneburg ist davon allerdings nichts zu spüren: 60 aufgeregte Kinder stehen dort im Altarraum für die letzte Chorprobe vor dem Auftritt beim Gemeindefest.

Steigende Zahl an Chormitgliedern in Lüneburg

Mehrere hundert Menschen drängen sich in den Sitzreihen. Die Singschule ist sehr gut besucht, freut sich Leiterin Frauke Heinze: "Es sind derzeit rund 150 Jungen und Mädchen, die Jüngste ist vier und der Älteste ist 20 geworden. Damit hat sich die Zahl der jungen Sängerinnen und Sänger in den vergangenen Jahren sechs Jahren fast verdreifacht."

Kein Konfessionszwang beim Chorsingen

Bei den Kirchenchören spiele es überhaupt keine Rolle, ob die Mitglieder in der Kirche sind oder nicht, sagt Joachim Vogelsänger, Kantor in St. Johannis. Das gilt nicht nur für den Kinderchor, sondern auch für die verschiedenen Erwachsenen-Chöre: "Wir fragen bei den Chormitgliedern nicht nach der Kirchenmitgliedschaft. Wer gerne singen möchte, wer gerne im Wesentlichen geistliches Repertoire singen möchte, der ist in unseren Chören herzlich willkommen. Es gibt keine Mitgliedsbeiträge für Nicht-Kirchenmitglieder. Wir fragen schlicht nicht danach."

Weitere Informationen
Eine leere Kirche, vom Altar aus betrachtet. © NDR

Kirchenaustritte auf Rekordniveau: Höchste Zeit für Veränderungen

Warum treten immer mehr Menschen aus - und lässt sich der Trend aufhalten? Eine Hamburger Pastorin sucht Antworten. mehr

Um die Musikkultur der St. Johanniskirche in Lüneburg macht sich Vogelsänger keine Sorgen. Hier gibt es weiterhin verschiedene Chöre und sehr viele Konzerte. Lüneburg sei Zuzugsgebiet, habe ein breites Publikum, deswegen seien hier noch keine Stellen im Bereich Kirchenmusik gestrichen worden.

Die professionelle Kirchenmusik auf dem Land stirbt aus

Ganz anders sieht es auf dem Land aus, sagt Vogelsänger. Als Kirchenmusikdirektor berät er 160 Kirchengemeinden im Umkreis von Lüneburg. In seinen 40 Berufsjahren hat er schon viele Stellenstreichungen begleitet, zum Beispiel im Kirchenkreis Lüchow-Dannenberg: "An diesen Kirchen findet keine professionelle Kirchenmusik mehr statt, die einstmals große Kantoreiarbeit, die es dort gab, ist komplett zum Erliegen gekommen. Es wir dort im Gottesdienst auf nebenberuflichem Amateurniveau Orgel gespielt. Da sind tatsächlich Gruppen eingegangen, die heute schlicht nicht mehr existieren. Chorsänger haben sich anders orientiert oder singen eben gar nicht mehr. Das ist ein Verlust."

Zu wenige professionelle Chorleiter und Organisten

Lüchow-Dannenberg ist kein Einzelfall, sagt Vogelsänger. Die Kirchenmusik sei stellenmäßig schon jetzt am Limit. Teilweise gebe es in Kirchenkreisen, die aus 25 bis 30 Gemeinde bestehen, nur noch einen hauptberuflichen Kirchenmusiker. "Weniger geht nicht. Wenn der auch noch fehlt, dann gibt es überhaupt niemanden mehr, bei dem zum Beispiel interessierte junge Menschen Orgelunterricht nehmen können." Dann gebe es keinen professionellen Chor mehr, der den einen oder anderen vielleicht locke, der sage: "Chorleiter ist ein interessanter Beruf. Wenn dieses Minimum unterschritten würde, an dem wir jetzt in fast jedem Kirchenkreis sind, dann schneiden wir uns ein ganz wichtiges Bein in der Kirche ab. Denn eines der Standbeine ist die Kultur - und die wird repräsentiert durch die professionell ausgebildeten Kirchenmusiker."

Weitere Informationen
Bild des Doms von Güstrow © IMAGO / Volker Preußer

Neue Wege in der Kirche: "Wir müssen Trüffelschweine werden"

Von den traditionellen Formaten der Gemeindearbeit fühlen sich immer weniger Menschen angesprochen. Ein junges Landpastorenpaar erprobt neue Wege. mehr

Der Kulturbeauftragte des Rates der EKD, Johann Hinrich Claussen, kennt das Problem. Er sieht darin aber auch eine Chance: "Natürlich ist immer alles gefährdet, wenn weniger Geld da ist. Auf der anderen Seite geht es nicht immer nur um Geld, es geht darum, dass man miteinander in Beziehung ist. Da ist Kirchenmusik eine wunderbare Brücke. Wenn Beziehungen stabil sind und das, was man gemeinsam tut, lockend genug ist, dann findet man auch Geld."

Hoffnung auf Spenden und Kooperationen

Claussen ist überzeugt, dass es Wege gibt, vielfältige Kirchenmusik anders zu finanzieren. Er sieht Möglichkeiten in Kooperationen mit Kitas und Schulen, aber auch durch die Unterstützung von Stiftungen und Vereinen. Das Sommerkonzert der St. Johanniskirche in Lüneburg war auf jeden Fall ein voller Erfolg. Im Klingelbeutel ist viel Geld für die weitere Arbeit der Singschule zusammengekommen. Hier geht die musikalische Arbeit trotz der Kirchenaustritte unvermindert weiter.

Weitere Informationen
Leere Kirchenbänke © IMAGO / Panthermedia

Bleiben oder gehen? Kirchenaustritte beschäftigen den Norden

Immer mehr Menschen treten aus den Kirchen aus. Woran liegt das? Beim NDR Schwerpunkttag suchen wir nach Antworten. mehr

Ein Mann verlässt eine Kirche © picture alliance/dpa Foto: Ingo Wagner

Zahl der Katholiken geht um mehr als eine halbe Million zurück

Das teilte die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) am Mittwoch in Bonn mit. Auch im Norden gibt es deutlich weniger Katholiken. mehr

Im Innenraum einer umgewidmeten Kirche, die jetzt eine Werbeagentur ist, stehen zwei Hunde. © NDR

Umwidmung oder Abriss? Die Kirchen müssen Gebäude aufgeben

In den kommenden Jahren werden die Kirchen rund 40.000 Immobilien aufgeben müssen. Was passiert mit den Gebäuden? mehr

In der Kirche St. Jakobi hängt ein Gemälde an einer kahlen, grauen Wand. © NDR Foto: Janet Lindemann

"Totentanz" in der Kulturkirche St. Jakobi in Stralsund

Seit vielen Jahren thematisiert Rubica von Streng Leben und Tod in ihrer Kunst. Ihr Werkzyklus "Totentanz" erregt nun viel Aufmerksamkeit. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 27.06.2023 | 07:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Klassik

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Porträt von Philipp Schmid © NDR Foto: Sinje Hasheider

Philipps Playlist

Philipp Schmid kennt für jede Lebenslage die richtige Musik. Egal ob Pop, Klassik oder Jazz. Träumt Euch zusammen mit ihm aus dem Alltag! mehr

Peter Urban © NDR Foto: Andreas Rehmann

Urban Pop - Musiktalk mit Peter Urban

Spannende Stories, legendäre Konzerte, bewegende Begegnungen: Peter Urban hat viel erlebt und noch mehr zu erzählen. mehr

Mehr Kultur

Die Schauspielerin Katharina Thalbach sitzt auf einem Sofa. © Screenshot

Katharina Thalbach mit "Ein Wintermärchen" wieder in der Elphi

"Ein Wintermärchen" mit Katharina Thalbach in der Elbphilharmonie ist fast ein Klassiker. Heute ist die erste von neun Aufführungen. mehr